Claudia Roth über Union und Flüchtlinge: „Sie machen Rassismus salonfähig“

Wird das Asyl zur Gretchenfrage einer schwarz-grünen Koalition? Grünen-Chefin Roth kritisiert die Haltung der Union in der Flüchtlingsfrage.

Zu Besuch im Flüchtlingscamp auf dem Berliner Oranienplatz. Rechts neben Claudia Roth sitzt Johnson Takyi, dessen Bruder bei Lampedusa ertrank. Bild: dpa

taz: Frau Roth, ist Innenminister Hans-Peter Friedrich ein Hassprediger, wie der Linken-Chef Bernd Riexinger sagt?

Claudia Roth: Das ist populistisch. Man darf den Begriff Hassprediger nicht relativieren. Aber Friedrich macht Stimmung, wenn er Worte wie „Asylmissbrauch“ benutzt oder von „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ redet. Für die CSU gilt nach wie vor, dass es rechts von ihnen nichts geben darf. Aber wer auf diese Weise Stimmung macht, macht Rassismus salonfähig und hilft denen ganz rechts außen und auch solchen wie der „Alternative für Deutschland“. Was die machen, ist Neorassismus in Nadelstreifen. Das sind nicht nur Eurogegner, das ist die deutsche Tea Party. Ihr Wahlwerbespot war offener Rassismus. Und da muss ein Innenminister verdammt aufpassen.

Auch nach dem Lampedusa-Unglück hat Friedrich jede Öffnung bei der Flüchtlingspolitik ausgeschlossen. Müssten die Grünen nicht alles tun, um in Regierungsverantwortung daran etwas zu ändern?

Flüchtlingen zu helfen ist unsere Verpflichtung, das steht in unserem grünen Stammbuch. Friedrich ist ein Architekt der Festung Europa. Das Mittelmeer ist das Meer des Todes geworden und Herr Friedrich verweigert sich völlig jeder europäischen Verantwortung.

Die wichtigsten Migrationsforscher Deutschlands haben gefordert, dem Innenministerium die Zuständigkeit für Migration und Integration zu entziehen. Zuwanderungspolitik werde dort nur als Gefahrenabwehr begriffen. Die Forscher fordern ein Ministerium für „Arbeit, Soziales, Migration und Integration“. Das wäre doch ein schönes Ressort für die Grünen.

Es geht nicht um Namen von Ministerien, sondern darum, ob ein Konsens für eine andere Politik gefunden werden kann. Das Anliegen der Wissenschaftler ist ja richtig, aber es braucht erst den politischen Willen, Europa nicht vor Flüchtlingen zu schützen, sondern Flüchtlinge zu schützen.

58, seit neun Jahren Bundesvorsitzende der Grünen. Von 2003 bis 2004 war sie Menschenrechtsbeauftragte im Kabinett Schröder.

Vor dem ersten Sondierungsgespräch hat die CDU Entgegenkommen signalisiert. Parteivize Armin Laschet und die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer sagten, es müssten „alle Möglichkeiten ausgelotet werden, damit Flüchtlinge in ihren seeuntüchtigen Booten nicht mehr zu Tode kommen“.

Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei Frau Böhmers Tätigkeit im Bundeskanzleramt jemals ernsthaft um Flüchtlinge ging. „Müsste“, „sollte“, „könnte“, das reicht mir nicht aus.

Hat die CDU das bei den Gesprächen nicht substantiiert?

Nein, wir werden da noch ins Detail gehen müssen. Wir machen keine Koalition, nur weil es dafür eine rechnerische Mehrheit gäbe. Wir wollen eine wirkliche Energiewende, eine gerechte, offene Gesellschaft, echte globale Verantwortung. Die Bundesregierung redet nach Lampedusa von Entwicklungshilfe und liefert Waffen an Länder, die zu Terror und Gewalt und somit direkt zur millionenfachen Flucht beitragen, das passt vorne und hinten nicht zusammen.

Wie könnte es denn gehen?

Den Menschenrechten muss Geltung verschafft werden. Wir müssen weg von der Logik der Gefahrenabwehr. Flüchtlinge sollten nicht länger als Illegale gelten.

Ein Menschenrechtsministerium zu führen, entspräche doch genau Ihrer Biografie.

Das entspräche grüner Biografie.

Die Grünen wollen die Grenzschutzagentur Frontex und das neue Grenzkontrollsystem Eurosur auf die Seenotrettung verpflichten. Ist das mit deren Aufgabe, illegale Migration zu stoppen, vereinbar?

Eurosur soll illegale Einwanderer „aufspüren, verhindern und verfolgen“. Die Priorität ist in der Tat eine komplett andere, auch bei Frontex. Jetzt kann man sagen: Hau weg den Scheiß. Aber das ist nicht sehr realistisch.

Wäre es denn politisch richtig?

Ich kann jetzt gerne sagen, dass die Grünen mit ihren 8 Prozent dafür sind, Frontex abzuschaffen. Politisch wäre es richtig, aber es ist wenig realistisch, dafür europaweit die nötigen Mehrheiten zu bekommen. Es ist aussichtsreicher zu fragen, wie man das Mandat grundlegend verändern und im Sinne des Schutzes von Flüchtlingen umdrehen kann.

Eine Möglichkeit wird auf Ihrem Parteitag nächstes Wochenende auf der Tagesordnung stehen: die Forderung nach einem „humanitären Korridor“ für Asylsuchende. Wie soll der aussehen?

Wir wollen, dass endlich wieder ein legaler Zugang nach Europa geschaffen wird. Es muss humanitäre Visa geben, um den tödlichen Weg über das Mittelmeer unnötig zu machen.

Als Anlaufstellen hierfür sind EU-Botschaften, etwa in Afrika, im Gespräch. Birgt das nicht die Gefahr, dass das Asylverfahren gleich ganz dorthin ausgelagert wird, wie Otto Schily es schon 2003 wollte?

Das wollen wir natürlich nicht. Man muss verhindern, dass am Ende das Bundesamt für Migration in Eritrea sitzt und dort die Asylverfahren abwickelt.

Die Grünen wollen, dass Deutschland mehr Kontingentflüchtlinge aufnimmt. Die UN bitten die wichtigsten Industriestaaten um jährlich etwa 200 sogenannte Resettlement-Aufnahmeplätze je 1 Million Einwohner – in Deutschland wären das 16.000.

Und das ist noch wenig, wenn Sie sich anschauen, was in den Flüchtlingslagern rund um Syrien los ist. Diese Zahlen sind sehr moderat, sehr UNHCR-mäßig. Deutschland nimmt derzeit 300 Kontingentflüchtlinge pro Jahr auf. Das reicht nicht.

Die CDU lehnt eine Erhöhung strikt ab. Was wollen Sie da bei Verhandlungen verlangen?

Noch sondieren wir nur. Aber klar ist, es müssen deutlich mehr sein.

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