Christian Wulff im Gespräch: „Ich bin nicht der Fetentyp“
Er war der Bundespräsident mit der kürzesten Amtszeit: Christian Wulff über Ruhestand mit 60, echte Freunde und seine Freude am Deutschen Chorwesen.
taz am wochenende: Herr Wulff, Sie sind 60 Jahre alt und ein Bundespräsident im Ruhestand. Eigentlich zu jung für die Rente.
Christian Wulff: Ich langweile mich nicht, wenn Sie das meinen. Ich bin viel unterwegs zwischen meinem Büro im Bundestag in Berlin, meinem Anwaltsbüro in Hamburg und meinem Wohnsitz in der Nähe von Hannover. Ich habe endlich mehr Zeit für meine Kinder. Mit ihnen und mit anderen jungen Menschen zu reden, fordert und bereichert mich sehr.
Andere Ältere empfinden junge Menschen oft als anstrengend. Gerade jetzt, da die Klimaproteste einen großen Teil der politischen Diskussion dominieren.
Mir geht es da ganz anders. Ich ziehe großen Gewinn aus dem Zusammentreffen mit Jüngeren, ich will ihre Probleme und Gefühlslage verstehen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.
Warum?
Ich mache mir Gedanken über das Jahr 2030. Viele unserer Kinder werden aber das Jahr 2100 erleben, da stelle ich mir die Frage: Was nützt es, wenn es uns allen heute immer besser geht, aber am Ende vieles nicht mehr geht, weil die Menschheit die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens zerstört? Deshalb konzentriere ich meine Aktivitäten auf junge Leute. Ich bin an Schulen und Unis unterwegs, halte Vorträge, diskutiere. Und dann habe ich ja noch jede Menge Ehrenämter und repräsentative Aufgaben: Ich bin Präsident des Deutschen Chorverbandes, Vorsitzender des Stiftungsrats der Deutschlandstiftung Integration. Und ich bin viel in Europa und der Welt unterwegs.
Machen Sie alles, was Ihnen angeboten wird?
Das würde ich nicht schaffen. Obwohl es immer noch viel ist, kann man das, was ich heute zu tun habe, nicht mit der Fülle an Arbeit vergleichen, die ich früher in meinen politischen Ämtern hatte.
Fehlt Ihnen der frühere Rummel?
Früher war ich ständig von der Presse begleitet. Heute bin ich meist ohne Presse mit Bürgerinnen und Bürgern im Gespräch. Das ist wesentlich entspannter. Ich habe Verantwortung immer gerne wahrgenommen, aber weniger Verantwortung zu tragen als früher befreit auch.
Inwiefern?
Ich kann länger mit Menschen reden und laufe nicht Gefahr, dass das von Beobachtern auf wenige Halbsätze reduziert wird. Dass ich jetzt eher „unter dem Radar“ der öffentlichen Empörung in den sozialen Netzwerken agieren kann, macht mein Leben natürlich auch leichter.
Der Politiker
Wulff wurde 1959 in Osnabrück geboren. Von 2003 bis 2010 war der CDU-Politiker Ministerpräsident in Niedersachsen, anschließend Bundespräsident. Er trat 2012 im Zuge der „Wulff-Affäre“ zurück, nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung seiner Immunität wegen Verdachts auf Vorteilsnahme beantragt hatte. 2014 wurde er freigesprochen.
Der Privatmann
Wulff vertritt Deutschland bei ausländischen Staatsakten, hält Vorträge, ist Präsident des Deutschen Chorverbands und arbeitet wieder als Anwalt.
Keine Lust mehr, bei der CDU mitzumischen, so wie das Friedrich Merz und Roland Koch gerade tun?
Da manches in der CDU gar nicht und vieles in der Gesellschaft in die falsche Richtung läuft, juckt es schon in den Fingern, im Herzen und im Verstand. Ich hatte selten derart das Gefühl, dass es so wichtig ist, für die „Bunte Republik Deutschland“ zu kämpfen. Und das tue ich nun fast täglich mit Veranstaltungen.
Sie waren der jüngste Bundespräsident und derjenige mit der kürzesten Amtszeit. Sie waren ganz oben und dann weit unten. Schmerzt Sie das?
Die Bedeutung sollte sich ja aus dem, was man zu sagen hat, ergeben – und nicht aus dem Amt. Da spüre ich großes Interesse von den Bürgerinnen und Bürgern, die in meine Veranstaltungen kommen. Die schwierige Phase des öffentlichen Drucks und der Rechtfertigung habe ich ja schon eine ganze Weile hinter mir.
Waren Sie 2011 einsam während der sogenannten Wulff-Affäre, bei der Ihnen Bestechlichkeit und Vorteilsnahme vorgeworfen und Ihnen sogar ein Bobbycar für Ihren Sohn zum Verhängnis wurde?
Ich hatte und habe viele Freunde, die auch in dieser schwierigen Zeit an meiner Seite gestanden haben. Das war wichtig.
Alte Freunde wie der Unternehmer Dirk Rossmann?
Ich sag es mal so: Ein Drittel der politischen Freunde ist geblieben, ein Drittel von Freunden aus meiner Schul- und Studienzeit habe ich wiedergewonnen, ein Drittel ist komplett neu dazu gekommen.
Was für neue Freunde?
Ganz normale Bürgerinnen und Bürger. Da alle mitbekommen hatten, was mir widerfahren war, konnten sich schließlich auch alle melden. Manche haben Briefe geschrieben, in denen sie mitteilten, dass sie mit mir leiden. Ich habe aber auch E-Mails bekommen, in denen ich angegriffen wurde. Post mit Verschwörungstheorien war auch dabei.
Was haben Sie damit gemacht?
Viele habe ich gelesen und die meisten beantwortet. Hier im Büro steht noch eine Kiste mit etwa 5.000 Zuschriften, positiven wie negativen. Irgendwann wird die jemand mal auswerten, das habe ich noch nicht geschafft.
Einer Ihrer früheren engsten Vertrauten war Olaf Glaeseker, Ihr PR-Berater und Sprecher. Zu Ihren Glanzzeiten sagte man, Glaeseker sei Ihr „Bauchredner“. Sind Sie heute auch noch miteinander befreundet?
Das ist sehr privat. Dazu möchte ich nichts sagen.
Als Ihr PR-Berater hat er Sie und Ihre Beziehung zu Bettina Körner, Ihrer späteren Frau, medial inszeniert und mit dafür gesorgt, dass Sie heute hier und nicht im Präsidialamt sitzen.
Das kann man so nicht sagen, es war differenzierter. Deshalb habe ich ja ein Buch mit 220 Seiten dazu geschrieben …
… das einen bezeichnenden Titel trägt: „Ganz oben, ganz unten“.
Es gab ein öffentliches Interesse an meiner Person, vor allem privat. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite aber gab es diejenigen, die das Interesse bedient, dabei aber keinerlei Verantwortungsgefühl gezeigt und gesagt haben: Wir können heute so und morgen so schreiben.
Sie spielen auf den Satz von Springer-Vorstand Mathias Döpfner an: „Wer mit der,Bild'-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.“ Haben Sie wirklich geglaubt, „Bild“ behandelt Sie fair?
Daraus habe ich gelernt und sage deshalb heute: Privat ist privat.
Empfinden Sie es im Nachhinein als naiv, Kai Diekmann, dem damaligen „Bild“-Chefredakteur, auf die Mailbox zu sprechen?
Meinen Fehler im Umgang mit der Bild habe ich zu spät erkannt.
Fühlen Sie sich als Opfer einer Medienkampagne?
Es wäre zu einfach, das, was damals passiert ist, als Medienkampagne zu bezeichnen. Es war ein Zusammenspiel von Medien, Politik, Justiz. Ich deklariere mich nicht als Opfer, sondern sehe mich als Akteur, als Handelnden. Es ist doch leider so: Alle haben Fehler gemacht. Und alle haben Schaden genommen.
Welchen Schaden haben Medien genommen?
So wie mit mir, wird jetzt sicher mit keinem Politiker, mit keiner Politikerin mehr umgegangen. Damals ging es zumindest der Boulevardpresse nicht mehr darum, welche Details aus meinem Leben wie aufgeschrieben werden. Die Berichte hatten nur noch ein Ziel: meinen Rücktritt. Egal, ob das Geschriebene stimmte oder nicht. Diese Medien wollten offenbar zeigen, welche Macht sie haben.
Ihrer Tochter haben Sie zu Weihnachten trotzdem einmal ein Zeitungsabo geschenkt.
Es gibt ja auch andere Medien. Im internationalen Vergleich gehört die deutsche Presselandschaft zu den besten. Als ich einem Botschafter erzählte, dass ich meiner Tochter ein Zeitungsabo geschenkt habe, lachte der und sagte: Das ist Deutschland, da geht das. In seinem Land – ich verrate nicht, welches das war – fiele ihm keine Zeitung ein, die er verantwortungsvoll verschenken könnte.
Unabhängig davon klagen Sie gegen Medien. Ist das nicht ein Widerspruch: Zunächst Medien zu nutzen und dann juristisch gegen sie vorzugehen?
Ich habe viele Prozesse geführt, es laufen immer noch welche: Verfahren, in denen ich meine Kinder vor jeglicher Berichterstattung und meine Privatsphäre schütze. Damals haben Reporter in umgebauten Mülltonnen vor meinem Haus herumgelungert. Andere haben tagelang im Auto auf mich gewartet. Das war schon unglaublich. Das ist jetzt fast vorbei. Und so was wie die Titelseite einer Lokalzeitung in Hannover mit einem Foto von meinem damaligen Haus, dem Fahrrad meines Sohnes und der Titelzeile „Wer will dieses Haus?“, wird es hoffentlich nicht mehr geben.
Sie müssen in dieser Zeit wahnsinnig wütend gewesen sein.
Das fragen mich viele Menschen. Aber Wut als Gefühl ist mir eher fremd.
Sind Sie denn nie wütend?
Inzwischen entdecke ich bei mir Wut, aber politisch: Wenn ich beispielsweise sehe, wie in Thüringen Vertreter der sogenannten Werteunion …
… einem Zusammenschluss konservativer und wirtschaftsliberaler Initiativen in der Union …
… weggucken und verharmlosen, wenn die Höcke-AfD gegen Grundfragen unserer Verfassung vorgeht. Die CDU wird auf ihrem kommenden Parteitag klar wiederholen müssen, dass sie zwar nach rechts integrativ wirken will, aber Extremisten in der Union nichts zu suchen haben.
Was haben Sie dann damals während der „Causa Wulff“ gefühlt?
Enttäuschung, Beklemmung, Sorge. Ich ahnte: Hier kann es nur Verlierer geben, alle werden Schaden nehmen, Medien, Politik, Justiz. Wer wird sich denn noch engagieren, wenn das für ihn und seine Familie bedeutet, Freiwild zu sein?
Hatten Sie keine Angst um sich selbst?
Ich kannte meine Geschichte und war von Anfang an davon überzeugt, dass am Ende der Freispruch stehen wird. Das hat mir Gelassenheit gegeben.
Über der Affäre ist Ihre Ehe zerbrochen …
Damals habe ich viel verloren, das ist richtig, auch meine Frau. Aber ich habe auch viel gewonnen: Freiheit, Zeit und die Möglichkeit, Themen, die mir wichtig sind, intensiv zu behandeln: Zusammenhalt, Migration, Integration. Außerdem hole ich jetzt nach, was ich in meinen Ämtern nicht konnte: Ich verbringe viel Zeit mit meinen Kindern. Ich spüre Dankbarkeit.
Dankbarkeit? Ihnen wurde übel mitgespielt.
Ich bin dankbar dafür, dass meine Partei, die CDU, zu mir gehalten hat. Dankbar, dass ich viele Jahre Niedersachsen als Ministerpräsident regieren und das Amt des Bundespräsidenten ausfüllen durfte. Auch wenn Letzteres zu kurz war.
Welche Spuren hat die Affäre bei Ihnen hinterlassen?
Alle, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben, sagen: Die braucht man nicht. Aber wenn man sie nun schon einmal machen muss, kann man daran wachsen.
Sie sind daran gewachsen?
So sehe ich das. Wer an der Glocke immer nur zieht, erzeugt keinen schönen Klang. Wenn man zieht und loslässt, ist das viel erfolgreicher. Ich habe gelernt: Gelassenheit kommt auch von Loslassen.
Warum sind Sie nicht weggezogen aus Großburgwedel?
Mir haben viele Menschen geraten, nicht nur den Ort, sondern sogar das Land zu verlassen. Gehen Sie doch in die Schweiz oder in die USA, haben die Leute gesagt. Das kam für mich aber nie infrage. Hierzubleiben hat für mich etwas mit Gesicht zeigen zu tun. Außerdem ist das hier mein Land.
An der Tankstelle in Großburgwedel halten immer wieder Leute an, die fragen, wo der Wulff wohnt.
Die Mitarbeiter dort sind total genervt, aber sie verraten nie etwas. Diese Neugier hält mich trotzdem nicht davon ab, hier zu leben. Das Dorf hat eine funktionierende Gemeinschaft, die immer zu mir gestanden hat. Damals, als die Affäre um mich hochkochte, haben Reporter nach Nachbarn gesucht, die Sätze sagen wie: „Der Wulff ist ein Stinkstiefel.“ Aber sie haben niemanden gefunden. In Großburgwedel fühle ich mich heimisch, meine Kinder sind dort zu Hause.
Wie übersteht man eine Krise wie Ihre seelisch?
Ich habe viel gelesen, vor allem Bücher zu Psychologie. Das hat mir enorm geholfen. Und ich habe mich mit Jimmy Carter getroffen.
Dem frühen US-Präsidenten?
Mit genau dem. Ich habe ihn ein wenig zu meinem Vorbild gemacht. Als relativ junger Mann wurde Carter Präsident, seine echte Wirkung konnte er aber erst als Altpräsident entfalten, über seine Stiftung und seine Tätigkeiten im Bereich der internationalen Vermittlung. Jetzt ist er 95 geworden und mehr als 40 Jahre als Altpräsident aktiv.
Sind Sie mit ihm noch in Kontakt?
Momentan hält mich die amerikanische Politik auf Distanz zum Land. Vielleicht besuche ich ihn im Februar in Georgia.
Findet man Sie in Hannover auf dem Schützenfest?
Das war immer meine schwache Seite. Ich bin nicht so der gesellige Fetentyp und trinke ungern Alkohol. Ich konzentriere mich heute mit großer Begeisterung auf das Chorwesen. Chöre sind ein völlig neues Feld für mich, und ich finde es großartig. Überall in Deutschland gibt es Chöre. Sie sorgen für Gemeinschaft und Zusammenhalt, unabhängig von Herkunft, Glaube, Beruf.
Sie singen selbst?
Bei den Treffen mit den Chören mit wachsender Begeisterung. Obwohl man ja gemeinhin sagt, jeder Mensch könne singen, würde ich das bei mir einschränken. Ich habe leider keine Stimme, die besonders gut fürs Singen geeignet ist.
Aha.
Meine Stimmbänder sitzen zu tief, das ist genetisch bedingt und war schon bei meinem Großvater so. Aber meine tiefe Stimme verschafft mir einen großen Vorteil.
Welchen denn?
Es ist noch keinem Komödianten und Radiotalker gelungen, meine Stimme zu imitieren und jemanden anzurufen und zu sagen: Hallo, hier ist Christian Wulff. Mit Wäscheklammern auf der Nase klingt das eher nach meinem Freund und Parteikollegen Ronald Pofalla.
Würden Sie den Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ noch einmal sagen?
Ich sage ihn immer wieder. Und ich halte ihn heute für notwendiger denn je. Es geht nicht nur um Religionsfreiheit und die Freiheit, diese auszuüben, sondern um die Deutungshoheit über unser Grundgesetz. Es geht vor allem um die Frage, ob wir in der Lage sind, unsere offene pluralistische Demokratie gegen die Feinde der Freiheit zu verteidigen.
Wann sagen Sie den Satz?
Oft in Bürgerversammlungen und bei Terminen mit Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Hier fühle ich mich total gefordert als Influencer, wie man heute so schön sagt. Ich rede mit ihnen über ihr Leben, über den Brexit, über Ungarn und den Rechtspopulismus dort, und was man dagegen tun kann. Über die Klimakrise. All das füllt mich aus. Ich bin glücklich.
Wirklich?
Wer so unabhängig ist wie ich und sich trotzdem beklagt, hat die Glocken nicht gehört.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren