Chinatreue Regierungschefin Carrie Lam: Hongkongs sture Tigermutter
Carrie Lam ist Pekings so strenge wie gescheiterte Vollstreckerin in der Sonderzone. Zur Einmischung der chinesischen Regierung schweigt sie eisern.
Einmal mehr hat die Peking loyal ergebene Lam bewiesen, dass ihr Wort nichts zählt, zumindest wenn es um Hongkongs demokratische Zukunft geht. Also um etwas, das Peking partout nicht will. Seit Anfang Juni protestieren die Menschen in der früheren britischen Kolonie gegen einen Gesetzentwurf der Regierung zur Auslieferung Krimineller an China.
Das inzwischen zwar suspendierte, aber offiziell nicht zurückgezogene Gesetz wird von weiten Teilen der Bevölkerung als Beweis der zunehmenden Erosion ihrer Freiheiten gesehen. Die Autonomierechte wurden den Hongkongern nach der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ bei der Rückgabe der Stadt 1997 von Großbritannien an China garantiert. Mit vielen Demonstrationen drückten die Menschen seit Juni ihre Sorgen aus, sie legten mit Sit-ins den Flughafen und immer wieder Teile der Stadt lahm.
Yik Mo Wong, Aktivist der Civil Human Rights Front
Drei Massendemonstrationen gab es bereits, bei der vorerst letzten am 18. August gingen mehr als 1,7 Millionen Hongkonger auf die Straße. Im Mittelpunkt der Proteste steht der wachsende Frust über die chinatreue Regierungschefin Lam. Die hatte sich zu Beginn der Proteste noch verständnisvoll gegeben. „Die Regierung muss zwar sicherstellen, dass die Verwaltung effizient funktioniert, aber sie muss auch geduldig zuhören“, sagte sie am 1. Juli bei der Feier zum 22. Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an China.
Der Dialog
Getreu ihrem offiziellen Titel „Chief Executive“ – etwa Chefmanagerin – äußerte sie sich mit fester sachlicher Stimme direkt zu den Protesten. Als Politikerin müsse sie sich „jederzeit die Notwendigkeit klarmachen, die Stimmung der Öffentlichkeit akkurat zu erfassen“. Zwei Monate, viele Demonstrationen und null Zuhören später rief Lam letzte Woche eine „Plattform für Dialog“ ins Leben, der prominente Personen aus Politik und Gesellschaft angehören.
Yik Mo Wong, 33, kann darüber nur bitter lachen. „Das ist typisch Lam. Sie verspricht vieles und hält nichts“, sagt Wong, der bei der Protestbewegung Civil Human Rights Front (CHRF) aktiv ist. „Bei der Regenschirm-Revolution 2014 gab es Gespräche mit der Regierung. Da wurde uns aber nur gesagt: Wir haben recht und ihr habt unrecht.“
Politikberaterin Alice Wu geht am Dienstag dieser Woche in einem Meinungsstück für die in Hongkong erscheinende South China Morning Post hart mit der Regierungschefin ins Gericht. „Lam hat sich von Anfang an geweigert, sich den Demonstranten zu stellen, und hat seitdem die Kunst des Sich-Versteckens und der Verantwortungsverweigerung perfektioniert. Sie ließ die Polizei für die von ihr angerichtete politische Katastrophe bezahlen“, schreibt die frühere Direktorin des Asia Pacific Media Network der Universität von Los Angeles.
Willi Lam, Politologe
Die zentrale Forderung der Demonstranten ist eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Dafür gingen am letzten Sonntag bei strömendem Regen sogar Hunderte Familienangehörige von Polizisten auf die Straße. Lam solle endlich auf die Forderungen der Öffentlichkeit antworten, forderten Ehefrauen und Geschwister von Polizisten und machten sich für die Gründung eines Dialogforums zwischen den Protestgruppen wie für eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt stark.
Nach ihrem Studium an der Universität von Hongkong begann Lam ihre Beamtenkarriere als Mitarbeiterin verschiedener Behörden der damaligen britischen Kronkolonie. 2007 begann ihre politische Karriere als Entwicklungsministerin. Zehn Jahre später wurde sie als erste Frau von dem von China handverlesenen Wahlgremium zur Regierungschefin Hongkongs gewählt. Peking hatte zuvor zu erkennen gegeben, dass sie die Auserwählte der chinesischen Führung ist.
Seitdem fällt Lam immer mal wieder mit trumpesken Aussagen auf. So pries die gläubige Katholikin ihren Aufstieg zur mächtigsten Frau Hongkongs als von „Gott gewollt“. Die katholische Replik kam prompt und klar. „Niemand kann zwei Herren dienen“, gab der katholische Rechtsanwalt und Politiker Andrew Cheng Kar-Foo zu Protokoll. „Wer sein Mandat von der Kommunistischen Partei Chinas erhält, weiß, dass es seine Aufgabe ist, der Kommunistischen Partei zu dienen.“
Das Mutter-Sohn-Verhältnis
Gerne führt Lam auch ihre Erfahrung und Autorität als Mutter an, die genau weiß, was das Beste für die Kinder ist. Hätte sie ihren beiden Söhnen „alle Launen“ durchgehen lassen, würden sie das als Erwachsene bedauern, sagte Lam noch Anfang Juni zur Verteidigung des Auslieferungsgesetzes ganz im Stil einer chinesischen Tigermutter, für die Disziplin und Strenge entscheidende Erziehungskriterien sind.
Möglicherweise gibt Lam nicht von ungefähr die Tigermutter. Immer häufiger nämlich sprechen Regierungspolitiker in Hongkong vom mächtigen China als „Mutterland“. Und ein hochrangiger chinesischer Politiker verglich im vergangenen Jahr die Beziehung der chinesischen Verfassung zu Hongkongs Grundgesetz als „Mutter-Sohn-Verhältnis“.
Wenn Versprechen und Bekenntnisse zum Dialog nicht fruchten, drückt Lam auf die Tränendrüse. So warf sie Mitte August auf einer Pressekonferenz den Demonstranten weinend vor, Hongkong in „den Abgrund stürzen zu wollen“. Und sie versucht, mit anderen Mitteln zu besänftigen: Zwei Tage vor dem Protest der Millionen Mitte August versprach sie den Bürgern der Millionenmetropole eine Reihe von sozialen und ökonomischen Wohltaten. Die Forderungen der Menschen, das Auslieferungsgesetz endlich auch ganz offiziell zu beerdigen und das allgemeine Wahlrecht einzuführen, würdigte die Regierungschefin mal wieder mit keinem Wort.
Möglicher Rücktritt
Mit den angekündigten Wohltaten wolle Lam die Protestbewegung spalten, sie ziele auf „die schweigende Mehrheit ab“, glaubt Willy Lam, Politologe am Zentrum für Chinastudien der Chinesischen Universität von Hongkong. Von seiner nicht mit ihm verwandten Namensvetterin hält der Chinaexperte nicht viel: „Sie ist eine lahme Ente, die nur noch auf Anweisung der Führung in Peking agiert. Die kommunistische Führung ist zu keinerlei Konzessionen bereit.“
Zur Entschärfung der kritischen Lage in Hongkong könnte ein Rücktritt Lams zwar beitragen. „Das aber käme dem Eingeständnis der Kommunistischen Partei Chinas gleich, mit Lams Wahl vor zwei Jahren einen Fehler gemacht zu haben“, sagt der 67-Jährige. „Peking würde sein Gesicht verlieren.“
Eine Anfrage an die beinharte Chinaloyalistin und Parlamentsabgeordnete Regina Ip zu einem Gespräch über Carrie Lam blieb unbeantwortet. Sollte Lam demnächst doch noch zurücktreten, gilt Ip als eine mögliche Nachfolgerin. Auch in der Bevölkerung gibt es viele Menschen, die treu zu China und Lam stehen. Hunderte ihrer Anhänger warfen am 14. August vor dem Büro des lokalen Journalistenverbandes den Reportern Lügen vor. „Der Journalistenverband steht auf der Seite der Demonstranten und ist gegen die Regierung“, meinte ein Sprecher der regierungsnahen Demonstranten. „Die Regierungsgegner sind Kriminelle, die Hongkong zerstören wollen.“
Beunruhigende Zustände
In Shenzhen jenseits der Grenze Hongkongs zu China diskutierten unterdessen am Wochenende Hardliner aus China und Hongkong die Optionen zur Beendigung der Proteste. „Die in Hongkong stationierten Soldaten [der chinesischen Armee] sind keine Vogelscheuchen, die nur in der Garnison stehen. Sie sind vielmehr ein wichtiger Teil des [Prinzips] ein Land, zwei Systeme“, sagte die Hongkonger Hardlinerin und prochinesische Politikerin Maria Tam der chinesischen Staatszeitung Global Times.
Immer wieder ist Tam in den letzten Wochen in Shenzen mit dem Segen der Chinesen mit Erklärungen zu Hongkong öffentlich gerade so aufgetreten, als sei sie Hongkongs Regierungschefin und nicht Carrie Lam. Wer Hongkongs Protestbewegung unterstützt, bekommt Schwierigkeiten. Rupert Hogg, Geschäftsführer der Fluggesellschaft Cathay Pacific, musste auf Druck Pekings zurücktreten, weil sich einige Mitarbeiter der Airline mit der Protestbewegung offen solidarisiert hatten.
Hongkongs reichster Mann, Li Ka-shing, forderte am 16. August in den Zeitungsanzeigen die Protestbewegung auf, „China zu lieben, Hongkong zu lieben und sich selbst zu lieben“. „Das hat es noch nie gegeben, dass Großunternehmen Pekings Anordnungen gehorchen müssen“, sagt Chinaexperte Willy Lam: „Das ist sehr beunruhigend.“ Carrie Lam sagt zu all diesen Vorgängen nichts. Sie hat eben „die Kunst des Sich-Versteckens und der Verantwortungsverweigerung perfektioniert“.
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