Chiles neuer Verfassungsentwurf: Alles wieder auf Anfang
In Chile wird bereits zum zweiten Mal eine neue Verfassung ausgearbeitet. Viele Chilenen fühlen sich im Prozess übergangen.
Es ist bereits der zweite Versuch, eine neue Verfassung in Chile zu etablieren. Nachdem im September 2022 etwa 62 Prozent der Wähler:innen den von einer demokratisch gewählten und divers besetzten Versammlung ausgearbeiteten Entwurf abgelehnt hatten, entschieden Vertreter:innen der Regierung und der Opposition, dieses Mal Expert:innen zu beauftragen.
21 der 24 Mitglieder der Kommission sind Jurist:innen. Die Zusammensetzung entspricht den politischen Verhältnissen in der Abgeordnetenkammer und im Senat: Die Hälfte wurde von Mitte-links-Parteien ausgewählt, die andere Hälfte von rechtskonservativen.
Umstrittene Kommissionsmitglieder
Unter ihnen sind auch mehrere frühere Minister des rechten Ex-Präsidenten Sebastián Piñera, darunter einer, der Paul Schäfer nahestand, Gründer der ehemaligen deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad. Auch die Direktorin eines neoliberalen Thinktanks ist Kommissionsmitglied.
Es sind Personen wie diese, die 2019 monatelange Proteste auslösten. Hunderttausende gingen im ganzen Land auf die Straße, forderten mehr soziale Gerechtigkeit und eine neue Verfassung, um die aktuell gültige, die noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammte, zu ersetzen. Chile wird auch als „Labor des Neoliberalismus“ bezeichnet, da das damalige Militärregime radikale neoliberale Reformen unter Anwendung brutaler Gewalt umsetzte. Pinochet verankerte deren Fortbestand in der Verfassung.
Bei einem Referendum 2020 stimmten fast 80 Prozent für ein neues Grundgesetz. Die Versammlung, die dieses entwickeln sollte, wurde im Mai 2021 gewählt, mit Geschlechterparitätsregelung und reservierten Sitzen für Indigene, parteiunabhängige Kandidat:innen durften Wahllisten aufstellen. Das Ergebnis: Über die Hälfte der Mitglieder war parteilos, es war das vielfältigste politische Organ in der Geschichte Chiles.
Der ausgearbeitete Verfassungsentwurf, der ein starkes öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem, die Rechte der Natur und das Recht auf Wohnraum garantiert hätte, wurde aber abgelehnt.
Die Parteiunabhängigen hätten es nicht geschafft, die Legitimitätskrise der politischen Parteien zu überwinden, sagt Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin der Universidad de Chile. Zu der Vertrauenskrise kamen die Coronapandemie, eine generelle Unzufriedenheit mit der politischen Situation und eine Fake-News-Kampagne gegen den Verfassungsentwurf.
„Der neue verfassunggebende Prozess hat in seinem Versuch, sich vom vergangenen zu distanzieren, mehrere Forderungen ignoriert“, so Heiss, etwa die Kritik am Elitismus und an der Nichtbeteiligung der Indigenen. Die sozialen Bewegungen, die zu den treibenden Kräften der Protestbewegungen von 2019 und 2020 gehörten und auch in der vergangenen Verfassungskommission vertreten waren, kritisieren den neuen Prozess.
Anders als bei der vorherigen Arbeit der Kommission, die komplett ergebnisoffen war, also über alle Normen der Verfassung frei entscheiden durfte, ist der aktuelle Prozess durch 12 „Verfassungsgrundlagen“ beschränkt, auf die sich Regierung und Opposition nach dem Referendum vom September 2022 einigten. Dazu gehört unter anderem, dass der Staat zwar „die progressive Entwicklung sozialer Rechte“ unterstützen soll, aber durch „private und öffentliche Institutionen“.
Dieser werde von der politischen Elite gestaltet, sagt Javier Pineda, Mitglied der Coordinadora de Movimientos Sociales (Koordination Sozialer Bewegungen) und ehemaliger Berater von Mitgliedern des Verfassungskonvents.
Eines der größten Probleme in Chile ist laut Kritiker:innen des Neoliberalismus, dass etwa staatliche Gelder in private Bildungseinrichtungen und Kliniken fließen. „Wenn die neue Verfassung dem privaten und öffentlichen Sektor eine Gleichbehandlung garantiert, wäre sie sogar noch schlimmer als die aktuelle Verfassung“, so Pineda. Das neoliberale Experiment geht vorerst weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen