Chemikalien in Belgien: Nachbarschaftlich gegen Giftstoffe
Jahrelang hat der Chemiekonzern 3M in Belgien die Anwohner:innen gefährdet. Eine Familie klagte und bekam recht.
Die betroffene Familie wohnt etwa einen Kilometer von der Fabrik entfernt. Die Blutwerte aller vier Mitglieder weisen erheblich erhöhte PFAS-Konzentrationen auf. Die Stoffgruppe der „per- und polyfluorierten Alkylverbindungen“ ist schwer bis gar nicht abbaubar und wird daher als „Ewigkeitschemikalien“ bezeichnet.
Kläger Kurt Verstraete, dessen Werte 100-mal über dem zulässigen Grenzwert liegen, weiß noch nicht, was das für seine Gesundheit bedeutet. „Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer zu sagen, was die Folgen sind. Die Schäden werden vielleicht erst später deutlich“, zitierte der belgische TV-Sender VRT Verstraete.
Bemerkenswert ist, dass die Klage wegen Nachbarschaftsbelästigung bei einem Zivilgericht eingereicht wurde. Der Anwalt Geert Lenssens sagte belgischen Medien, für Tausende Anwohner:innen sei nun der Weg für eine Klage frei. „Es liegt im Interesse der Leute, denn Verjährung droht. Die Zeit, in der große Fabriken taten, was sie wollten, ist vorbei.“ Eine strafrechtliche Klage der Kommune Zwijndrecht wurde 2021 eingereicht, über ihren weiteren Verlauf gibt es noch keine Informationen.
Ans Licht kam der Skandal im Sommer 2021
Ans Licht kam der Skandal im Sommer 2021: Bei Grabungsarbeiten wurde entdeckt, dass der Boden hohe Konzentrationen von Perfluoroctansulfonsäure (PFOS, eine der PFAS-Gruppen) enthielt. Sowohl der Bauherr des Projekts als auch die flämische Regierung waren seit 2017 über die Verschmutzung im Bilde, unternahmen jedoch nichts.
Vergleichende Messungen zu Jahresbeginn haben ergeben, dass die PFAS-Konzentration nirgendwo in Europa höher ist als in der belgischen Region Flandern. Aus internen Dokumenten ist bekannt, dass 3M bereits vor 60 Jahren wusste, dass die Chemikalien im menschlichen Körper nicht abgebaut werden.
PFAS, die über die Luft oder Abwasser in der Natur landen, können etwa das Immunsystem angreifen, Entwicklung ungeborener Kinder beeinflussen, Leberschäden und Krebs verursachen. Menschen können sie durch Nahrung oder Trinkwasser aufnehmen. 3M hat belgischen Medien zufolge jahrelang Abwasser mit hohen PFAS-Konzentrationen in der Schelde, dem nahe gelegenen Fluss, entsorgt.
Groß abgelegte Blutuntersuchung
In Zwijndrecht begann am Montag eine groß angelegte Blutuntersuchung. Aufgerufen sind alle Einwohner:innen, die im Umkreis von fünf Kilometern der Fabrik wohnen. 9.000 der betroffenen 75.000 waren am ersten Tag eingeladen. Die bisher größte PFAS-Untersuchung Europas sei „ein sehr wichtiger Schritt, um an wissenschaftliche Daten zu kommen“, sagte Steven Vervaet, der grüne Umweltbeigeordnete des Stadtrats, der taz. Die jüngste Entscheidung des Zivilgerichts gebe zusätzlich Schwung. „Die Leute haben nun einen persönlichen Grund, ihre Blutwerte zu kennen.“
Auch Vervaet und seine Familie werden sich untersuchen lassen. Die Stimmung in der Umgebung reiche von gelassen bis sehr besorgt. „Aber auf die ein oder andere Art sind alle damit beschäftigt.“ 3M betont, man habe die PFOS-haltigen Produktionsketten bereits 2002 gestoppt. Aus einer aktuellen Untersuchung unter 330 Jugendlichen im 5-Kilometer-Umkreis der Fabrik geht dennoch hervor, dass drei Viertel von ihnen erhöhte PFOS-Werte haben.
Unterdessen wird das Beispiel der Familie Verstraete zum Präzedenzfall. Das Bürger:innenkollektiv „Darkwater 3M“ machte Anfang der Woche bekannt, eine zivilgerichtliche Massenklage gegen den Konzern vorzubereiten. 400 Familien hätten sich bereits angeschlossen. Aufgerufen sind alle Anwohner:innen in einem Radius von 15 Kilometern, was unter anderem die Hafen-Metropole Antwerpen mit einbezieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht