Chefredakteur über Medien in Argentinien: „Wir wollten es anders machen“

Das junge und unabhängige Medium „elDiarioAR“ will durchdringen und nicht untergehen. Ein Gespräch über ein gespaltenes Land und Turbo-Journalismus

Menschen sitzen um einen Tisch herum

Mitglied der Chefredaktion Walter Curia (links) mit Redakteurin Victoria De Masi (Mitte) Foto: Nora Belghaus

taz am wochenende: Herr ­Sivak, Argentinien schuldet dem Internationalen Währungsfonds mehr Geld als irgendein anderes Land und leidet seit Jahrzehnten an einer Inflation im Achterbahnmodus. Im Zweifel investieren große Unternehmen lieber woanders. Ein Teufelskreis. Wie kamen Sie dazu, unter diesen Bedingungen im Dezember 2020 ein Onlinemedium zu gründen?

Martín Sivak: Es ging darum, mit elDiarioAR eine Leerstelle zu füllen. Die Medienlandschaft in Argentinien ist einerseits vielfältig, aber wie überall in Lateinamerika gibt es eine starke Konzentration bei einigen wenigen Akteuren. In Argentinien ist deren Finanzierung undurchsichtig und ihre Unabhängigkeit zweifelhaft. Wir wollten es anders machen.

Und wie?

Wir hatten Glück, dass das spanische Onlinemedium elDiario.es mit uns kooperieren wollte und uns mit Startkapital geholfen hat. Langfristig wollen wir uns auf vier Pfeiler stützen: Abos, private Werbung, staatliche Werbung und ­Rechercheförderungen von NGOs. Unsere Abonnenten sind dabei der wichtigste Pfeiler. Es ist allerdings eine Herausforderung, ihre Zahl zu steigern. Mitgliedschaften haben keine große Tradition in Argentinien. Und steigt mal wieder die Inflation, ist ein Abo das erste, was die Leute kündigen.

47, ist ein argentinischer Journalist und Autor mehrerer Sachbücher, darunter über die bolivianischen Präsidenten Juan José Torres, Hugo Banzer und Evo Morales. 2020 hat er mit drei Kol­le­g:in­nen das Onlinemedium „elDiarioAR“ gegründet, dessen Chefredakteur er ist.

Ihre Redaktion versammelt namhafte Journalist:innen, die vorher für große Medienhäuser gearbeitet haben. Womit konnten Sie sie locken?

In den großen Traditionshäusern haben sie vielleicht mehr verdient, aber vielen fehlte es an Gestaltungsspielräumen. Wir sind ein kleines Team mit flachen Hierarchien und wir passen die Gehälter entsprechend der Inflation an. Das machen auch nicht alle. Ich glaube, am Ende ist es die Sinnstiftung, die moralische Verantwortung, der Antrieb, objektiven Journalismus zu machen.

Stichwort Objektivität. In Argentinien geistert seit über einem Jahrzehnt ein Wort durch Gesellschaft, Politik und Medien: La grieta, der Riss. Er trennt das Land in zwei unversöhnliche politische Lager: in die peronistische, links-progressive Kirchner-Anhängerschaft und ihren rechts-konservativen Gegnern. Wird objektiver Journalismus denn überhaupt belohnt?

Wir bekommen immer wieder wütende Mails von Leserinnen und Lesern, die unsere Berichterstattung kritisieren. Neulich hat ein Leser in einer Mail alle bisherigen 18 Artikel von elDiarioAR zum Korruptionsprozess gegen Cristina Kirchner auseinandergenommen. Aus seiner polarisierenden Haltung sprach ein recht deutlicher „confirmation bias“, also ein Bestätigungsfehler. Das heißt, der Leser liest das Medium nicht, um über Tatsachen informiert zu werden, sondern um in der eigenen Meinung bestätigt zu werden.

Und haben Sie reagiert?

Ja, wir antworten in der Regel immer. Für uns gehört es zur Aufgabe einer Zeitung, eine ­Beziehung zu ihren Lesern ­aufzubauen. Wir haben geantwortet, dass die Fakten in den Artikeln stimmen, dass wir mit seiner Sichtweise nicht ein­verstanden sind, sie aber respektieren. Insgesamt haben wir ein progressives Publikum, von der Mitte bis zur Linken. Aber gleichzeitig sind wir eine sehr pluralistische Zeitung. Es schreibt auch ein Autor für uns, der in der konservativen Partei PRO des Ex-Präsidenten Mauricio Macri ist.

Der Riss zeigt sich auch am verfehlten Attentat auf die Vize-Präsidentin Cristina Kirchner, das am 1. September das Land erschüttert hat. Wie haben Sie das erlebt?

Das war eines der bedeutendsten Ereignisse, seit es unsere Redaktion gibt. Aber die Anspannung in der Gesellschaft war auch vorher schon groß. Als mein Sohn vor drei Monaten zur Welt gekommen ist, zog der Arzt im Kreißsaal direkt nach der Geburt über die Wirtschaftsministerin her und sagte zu meinem Neugeborenen: „Ihretwegen wirst du es niemals aus diesem Land raus schaffen.“ Ich bin ein besonnener Mensch. Wäre ich ein Verfechter der Regierung gewesen, wäre die Diskussion schnell hitzig geworden. Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn das Attentat auf Cristina Kirchner geglückt wäre. Es hat uns als Redaktion schockiert: Politische Gewalt hat es in Argentinien nach der Wiederherstellung der Demokratie 1983 nur noch in Einzelfällen gegeben. Eine solche Rückkehr zur politischen Gewalt hat niemand erwartet.

elDiarioAR veröffentlicht immer wieder auch investigative Recherchen zu Umweltthemen, in denen kritisch über die großen Wirtschaftssektoren der Agrar- und Rohstoff­industrie berichtet wird. Wie finden das die Unternehmen, die in Ihrem Medium inserieren?

Es kommt vor, dass uns ein Unternehmen mit der Kündigung einer Anzeige droht. Aber wir bestimmen die Spielregeln, und das macht uns aus. Bei den Pandora Papers haben wir zum Beispiel eine Ölgesellschaft beim Namen genannt, die Steuergelder über sogenannte Offshore-Dienstleister im Ausland veruntreut haben soll. In anderen argentinischen Zeitungen wurde der Name dieser Ölgesellschaft nicht erwähnt. Wenn uns so eine Firma vor die Wahl stellt, geben wir die Anzeige ganz klar auf. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass wir prinzipiell einen Antiölkonzern-Diskurs fahren würden.

Nach welchen Spielregeln spielen die anderen Medien in Argentinien?

Viele reichweitenstarke Medien sind erfolgreich, weil sie schnell sind, weil sie Eilmeldungen per Push-Nachricht versenden, und weil sie auch Boulevardjournalismus machen. Es ist nicht so, dass wir das Rezept für guten Journalismus erfunden hätten. Den gibt es längst, der muss also nicht erst neu erfunden werden. Was wir getan haben, war, gute Journalistinnen und Journalisten zu versammeln, die sich den ursprünglichen Prinzipien verschrieben haben. Und wir glauben daran, dass auch dieses Modell erfolgreich sein kann.

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