Checkpoint Charlie in Berlin: Erinnerung to go
Einst ein Ort der Weltgeschichte, heute ein Rummelplatz: Wie der Checkpoint Charlie wurde, was er ist.
W ie selbstverständlich steht sie plötzlich da, eine orangefarbene Hütte am Checkpoint Charlie, gerade groß genug für eine Person. „Sharepoint Charlie“ kann man auf ihrer Seite lesen. Aufgebaut ist sie vor der Nachbildung des U.S. Army Checkpoints und den aufgetürmten Sandsäcken, hinter denen jeden Tag Touristen aus aller Welt posieren. Ein Kameramann macht sich bereit, ein Mann in Soldatenuniform und einer mit Klemmbrett nehmen Positionen ein. Ein Werbespot für eine Autovermietungsfirma soll hier gedreht werden.
Aber bevor die erste Einstellung aufgenommen wird, kommen zwei Polizisten und erklären den Männern, dass sie hier nicht drehen dürfen. Sie hätten eine Drehgenehmigung für ganz Berlin, behaupten die Werbefilmer, nur gerade nicht dabei. Allgemeine Genehmigungen hätten hier keine Gültigkeit, für den Checkpoint Charlie bräuchten sie eine Sondernutzungserlaubnis, referiert ein Polizist. Aus dem Dreh wird nichts.
Die Szene erzählt von dem besonderen Status dieses Ortes – und seinen heutigen Problemen. Der Checkpoint Charlie ist ein Stück Weltgeschichte. Das Schwarzweißfoto, auf dem sich am 27. Oktober 1961 genau hier gefechtsbereite Panzer der zwei Supermächte gegenüberstanden, ihre Geschütze aufeinander gerichtet, gehört zum globalen Bildergedächtnis. Am Checkpoint Charlie trafen Ost und West aufeinander, Kapitalismus und Kommunismus, GIs und rote Armee, getrennt durch eine weiße Linie, die die Grenze zwischen den Berliner Bezirken Mitte und Kreuzberg markierte.
Heute besuchen den Ort jedes Jahr rund 4 Millionen Menschen. Und viele versuchen den Mythos für sich auszuschlachten, ein Geschäft damit zu machen – da sind die Straßenhändler, die Sowjetuniformen, Pelzmützen und Gasmasken anbieten, daneben die vollgestopften Souvenirläden mit ihren bunten Mauerbröckchen, DDR-Fahnen und Miniatur-Trabis.
Fastfoodketten und Würstchenbuden rangeln um Kundschaft, Sightseeingbusse rollen im Schritttempo über die einstige Grenzlinie, Hütchenspieler und Bettlergruppen tauchen plötzlich auf und verschwinden wieder. Das zügige Tempo, mit dem sich die Menschen sonst in dieser Gegend bewegen, kommt hier fast völlig zum Stillstand. Schulklassen blockieren die Gehwege, Touristen stehen auf der Straße herum.
Wer heute nur einige Minuten am Checkpoint Charlie herumläuft, hat das Gefühl, über einen großen Rummelplatz zu gehen. Geboten wird historische Erinnerung to go, hier schnell ein Selfie, da schnell eine Bratwurst. Wie hat sich der Ort, an dem einmal Menschen bei Fluchtversuchen starben und die Angst vor einem Dritten Weltkrieg ständig präsent war, in eine schäbige Flaniermeile verwandelt? Wie wurde der Checkpoint Charlie, was er heute ist? Und was erzählt das über unseren Umgang mit historischer Erinnerung?
Im Hinterzimmer des Cafés Einstein, direkt am ehemaligen Grenzverlauf, hängen Schwarzweißbilder aus den 60er Jahren, darauf Stacheldraht, Brachen und Soldaten in Wintermänteln. Darunter sitzt Smiley Baldwin und macht seinem Vornamen alle Ehre – er lächelt, während er sich zu erinnern versucht, wie das damals war, als er als amerikanischer Soldat Dienst am Checkpoint Charlie tat.
Baldwin kam 1987 als Militärpolizist nach Berlin, zuvor war er zwei Jahre bei Frankfurt stationiert. „Dort war die Studentenszene in den Reagan-Jahren gegenüber US-Soldaten sehr ablehnend. In Westberlin waren die Leute so nett zu uns – sie waren dankbar, dass wir da waren.“ Als Militärpolizist fuhr er zusammen mit Berliner Polizisten Patrouille. Er interessierte sich für die Geschichte der Stadt, lernte Deutsch. Abwechselnd wurde er am Checkpoint Bravo an der Transitautobahn zur BRD und am Checkpoint Charlie eingesetzt.
Smiley Baldwin, ehemaliger GI über seinen damaligen Dienst
In dem Kontrollhäuschen arbeitete er als Assistent des Non-Commissioned Officer in Charge, des verantwortlichen Unteroffiziers. „Ich habe ihm beim Papierkram geholfen oder auch mal den Müll rausgebracht.“ Eigentlich sei das ein Bürojob gewesen. Die Russen wollten genau wissen, wer, wann, wieso in den Ostteil wollte, dafür galt es unzählige Formulare auszufüllen.
Aber wichtiger als die Bürokratie sei etwas anderes gewesen: „Es ging um Ästhetik. Es musste alles gut aussehen. Vor allem große, sportliche Jungs wurden hier eingesetzt“, erzählt Baldwin. „Meine Uniform konnte allein stehen, so steif war sie, damit sie keine Falten warf. Die Schuhe blitzten. Das Häuschen roch ganz neu und nach Putzmittel.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der Kontrollposten und die GIs gehörten zum „Schaufenster des Westens“, als das die Amerikaner Westberlin verstanden. „Wir mussten unserem Gegner zeigen, wie wir aussehen – und zwar tiptop“, sagt Baldwin. „Militärstrategisch waren wir ja tot.“ Es gab zwar Szenarien, wie sich die Soldaten der Westalliierten im Kriegsfall auf das Gebiet der BRD hätten zurückziehen sollen. „Aber jeder wusste, dass das bei der Übermacht der Sowjets und NVA-Soldaten völlig aussichtslos gewesen wäre.“
Das Schaufenster des Westens
Er erinnert sich an eine Situation am Checkpoint, die ihm gezeigt habe, was das eigentlich bedeutete: Kalter Krieg. „Ich stand hier und sah jemand, der von der anderen Seite auf uns zurannte. Fünf Meter vor der weißen Linie ist der Mann gestolpert. Wir durften ihm nicht helfen. Wenn einer von uns nur einen Schritt über diese Linie gemacht hätte, wäre die Welt in der nächsten Minute nicht mehr in Ordnung gewesen.“ In dem Moment war der Kalte Krieg kein abstraktes Konzept mehr, kein komischer Arbeitsplatz in einem fernen Land, sagt Baldwin. „Es war plötzlich sehr ernst. Wir haben zugeschaut, wie der Mann abgeführt wurde.“
1992 scheidet er aus der Armee aus und bleibt in dem nun wiedervereinigten Berlin. Er arbeitet als Türsteher, wird feste Größe des Berliner Nachtlebens, 17 Jahre macht er die Tür des legendären Clubs „Cookies“. Er ist der Einzige aus seiner ehemaligen Einheit, der in Berlin geblieben ist.
Wie blickt er heute auf diesen geschichtsträchtigen Ort? „Was mit dem Checkpoint Charlie geschieht, ist allein Sache der Deutschen“, sagt Baldwin. „Mit dem Fall der Mauer und dem Abzug der Soldaten ist unsere Verantwortung dafür vorbei. Und das ist gut so.“
Die Zeit nach 1989 bedeutet für den Checkpoint Charlie erst mal Rückbau. Die Mauer ist durchlässig geworden, jetzt soll sie ganz weg. Zwischen Juli 1990 und November 1991 werden in Berlin 155 Kilometer Mauer abgerissen, 302 Beobachtungstürme, 20 Bunkeranlagen, dazu die Grenzübergänge. Den Anfang macht der Checkpoint Charlie. In einer feierlichen Zeremonie mit den Außenministern beider deutscher Staaten, der USA, Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion wird die Kontrollbaracke der Amerikaner am 22. Juni 1990 abtransportiert. Die 298th U.S. Army Band spielt dazu „Berliner Luft“. Die taz, deren Redaktionsgebäude um die Ecke liegt, schreibt: „Letzte Vorstellung für Onkel Charlie“.
Und zunächst gibt es keinen Plan, was mit dem ehemaligen Grenzübergang passieren soll. Von einem Ort des Geschehens zu einem Ort des Erinnerns – das geht nicht von heute auf morgen. Was eben noch Gegenwart war, ist nicht gleich Geschichte, und damit ist es auch nicht gleich erinnerungswürdig.
Ganz nah am Unrecht
Es gibt aber jemand, der am Checkpoint Charlie praktisch von Anfang an da ist. Jemand, der Räume füllt, die andere offen lassen. Rainer Hildebrandt, ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die Nazis, eröffnet im Juni 1963 am Checkpoint sein Mauermuseum. Weil viele Geschäfte wegen der schlechten Lage nach dem Mauerbau 1961 wegzogen, kann er die Räume eines ehemaligen Cafés übernehmen. Axel Springer, der in der Nähe sein neues Verlagshaus baut, schickt einen Elektriker vorbei, der die Leitungen verlegt. Viele Redaktionen und Bildarchive stellen für die Ausstellung kostenlos Fotos zur Verfügung.
„So nahe wie möglich am Unrecht sein, dort entfaltet sich die menschliche Größe am stärksten“, erklärt Hildebrandt zur Eröffnung mit dem Pathos eines Freiheitskämpfers die Ortswahl. Das letzte Haus vor der Mauer ist damals auch nicht nur Museum. Fluchthelfer beobachten durch ein kleines Fenster alle Bewegungen am Grenzübergang, Geflüchtete werden aufgenommen, Fluchtpläne entwickelt.
Nach der Wende wollen Rainer Hildebrandt und seine Frau Alexandra den Checkpoint zu einem Denkmal für die Westalliierten machen, dafür soll auch die ehemalige Kontrollbaracke zurückkehren. Nicht die größere Baracke, die 1990 feierlich abtransportiert wurde, sondern eine Nachbildung der ersten Alliiertenbaracke aus den 60er Jahren. Eine winzige Holzhütte mit einem Schild auf dem Dach: US Army Checkpoint. Die Hildebrandts lassen sie anhand von Fotos nachbauen, am 13. August 2000 wird sie enthüllt.
2004 stirbt Rainer Hildebrandt. Im Inneren der nachgebauten Baracke erinnern ein Porträtfoto und ein Gedenktext an ihn, am Eingang des Mauermuseums steht eine eiserne Statue des Gründers. Das Museum selbst wirkt heute, als ob ein Messie mit Hang zur Zeitgeschichte sich mal so richtig austoben durfte.
Es quillt über von Exponaten, in den verwinkelten Räumen stehen mehrere Fluchtautos, teils mit Einschusslöchern, daneben eine Vitrine mit einem Pullover von Hans-Dietrich Genscher, aber auch eine, in der Sandalen von Mahatma Ghandi zu besichtigen sind. In vielen Räumen laufen Videos von alten Nato-Treffen – und in einer Ecke findet sich auch ein ausgestopfter Dachs, erlegt von Stasi-Chef Erich Mielke.
Alexandra Hildebrandt, die Witwe des Gründers und heutige Chefin, empfängt im Vortragsraum zum Gespräch. Es ist ein kalter Tag im Oktober, Hildebrandt friert trotz dicken Schals. Aber sie schüttelt sich nicht nur deshalb. Sie ist nicht glücklich damit, was sich vor ihrer Haustür abspielt: „Das ist kein Ort zur Belustigung, sondern zum Erinnern und Gedenken.“
Von ihrem Büro aus habe sie gerade verfolgt, wie die Werbefilmer die orangefarbene Hütte aufgestellt hätten. Sie habe gewusst, dass es nicht lange dauern werde, bis die Polizei einschreite. Endlich werde da genauer hingeschaut.
Alexandra Hildebrandt, Chefin des Mauermuseums
Hildebrandt, die in der Ukraine geboren wurde und nach der Wende nach Berlin kam, wacht streng über das Erbe ihres Mannes. Mit dem Mauermuseum erhebt sie den Anspruch zu definieren, was der Checkpoint ist – und wer Teil seiner Geschichte sein darf, wer nicht.
Nicht nur der Soldat der Werbefilmer hat hier Probleme mit der Polizei. Seit August patrouillieren auch keine Soldatenschauspieler mehr vor dem rekonstruierten Kontrollhäuschen. Die Männer in Retro-Uniformen waren dort jahrelang ein vertrauter Anblick. Morgens schoben sie, bereits in Uniform, mit einem Supermarkteinkaufswagen US-Fahnen und andere Utensilien zu ihrer Arbeitsstelle. Dort posierten sie den ganzen Tag für Geld mit Touristen vor den Sandsäcken.
Immer mehr Menschen hätten sich aber beschwert, erklärt das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Die „unerlaubte Sondernutzung“ durch die Soldaten sei über Jahre geduldet worden. „Da die Beschwerden in den vergangenen Monaten wieder zunahmen, wurde nunmehr dem Betreiber mitgeteilt, dass es keine Duldung mehr geben wird.“ Die Touristen seien regelrecht genötigt worden, mit den Soldaten Fotos zu machen, für die diese drei bis vier Euro verlangt hätten.
Dieses Spektakel all die Jahre, es habe sie angewidert, sagt Alexandra Hildebrandt. Die Schauspieler hätten diesen Ort zu einem Disneyland gemacht. Von Anfang an seien sie und ihr Mann dagegen vorgegangen. „Aber Herr Wowereit hat ja nicht reagiert, und da konnten wir nichts mehr machen.“ Sie zieht ihren Schal zurecht, sie friert noch immer. „Das gehört sich einfach nicht.“
Der Chef der Soldatenschauspieler
An dem Wochenende vor dem Mauerfall-Jubiläum berichtet auch die Berliner Lokalpresse von den verschwundenen Soldaten. Das Treffen zwischen der taz und Tom Luszeit, Chef der Soldatendarsteller, ist schon länger verabredet, aber an diesem Montag hat Luszeit nun viel zu tun. Kaum am Checkpoint Charlie angekommen, läuft er herum, spricht mit Touristen und anderen Journalisten, die sich freuen, ihn zufällig zu treffen.
Er lädt mehrere von ihnen ins Café Einstein ein, es wird eine improvisierte Pressekonferenz. Luszeit rückt seine Mütze mit goldenem US-Air-Force-Emblem zurecht. 17 Jahre war er der Chef der Soldatenschauspieler, die Männer bei ihm angestellt, vier Jahre stand er selbst verkleidet am Checkpoint. All die Jahre hätten die Menschen sich an ihnen erfreut, niemand habe sich je beschwert, sagt er.
Luszeit zeigt ein Schreiben der Stadt Berlin vom 28. Oktober 2003. Darin wird die Idee, als Soldaten verkleidete Schauspieler am Checkpoint patrouillieren zu lassen, begrüßt und als „erlaubnisfreier Gemeingebrauch“ genehmigt.
„Nun soll das alles vorbei sein?“, fragt er. „Wir sind längst eine Institution, ein Kulturgut gewissermaßen. Uns gibt es auf Memory-Karten und bei Monopoly. Tourist erwarten, dass wir dort stehen.“ Niemand sei genötigt worden, mit ihnen Fotos zu machen. „Wenn jemand ein Bild mit uns gemacht hat, haben wir im Anschluss ein Schild hingehalten, auf dem wir um eine Spende von drei Euro baten. Aber das hat längst nicht jeder bezahlt, manche haben 20 Cent gegeben, andere einen Euro.“
Dass sie an guten Tagen bis zu 5.000 Euro verdient hätten, wie die Bild-Zeitung berichtet hatte, sei völlig aus der Luft gegriffen. Mehr als 700 Euro seien es auch an den besten Sommertagen nicht gewesen. Die Jungs, die die Soldaten spielten, habe er zum Teil beim Arbeitsamt gefunden, manche seien auch zu ihm gekommen. Er habe Menschen mit Handicap beschäftigt, genauso Geflüchtete. „Und ich habe bei jedem Einzelnen darauf geachtet, dass er geschult ist. Dass er den Menschen sagen kann, was an diesem Ort passiert ist, wo Osten und wo Westen war.“
Zugegeben, dass sie anfangs als DDR-Volkspolizisten aufgetreten sind, das sei vielleicht geschmacklos gewesen, räumt Luszeit ein. Opfer der DDR-Diktatur protestierten damals scharf. Luszeit sagt: „Da hat auch Frau Hildebrandt gesagt, dass sie solche Uniformen nicht am Checkpoint Charlie sehen möchte. Das habe ich verstanden. Als ich ihr angeboten habe, dass wir stattdessen Alliierten-Uniformen tragen, war sie zufrieden.“
Er selbst habe auch eine persönliche Verbindung zum Checkpoint Charlie, sagt Luszeit. Sein Vater sei in Berlin als amerikanischer GI stationiert gewesen, er habe seine Kindheit hier verbracht. Er und seine Jungs seien „Geschichte zum Anfassen“ gewesen, sagt er. „Nur so kann Geschichte funktionieren. Wenn nichts da ist, worüber sich Menschen Gedanken machen können, bleibt der Kopf leer.“
Kampf um die Erinnerung
Wenn man Smiley Baldwin fragt, der als echter GI am Checkpoint stand, erzählt er, dass viele seiner ehemaligen Kameraden heute richtig sauer seien, wenn sie den Checkpoint besuchen würden. „Das sind Jungs, die dieses Berlin-Ding richtig ernst genommen haben. Für die ist das ein quasiheiliger Ort.“ Den ganzen Rummel empfänden sie als würdelos. „In unserer Facebookgruppe haben sie sich vor allem über die Typen in Uniform aufgeregt.“ In den USA ist es verboten, nur zum Spaß eine Uniform mit militärischen Abzeichen zu tragen, es gilt als Entwürdigung echter Soldaten.
Die Veteranen waren fassungslos, dass man gerade am Checkpoint Charlie damit keine Probleme sah, sagt Baldwin. „Ich bin vielleicht etwas linksliberaler als der Durchschnittsamerikaner, deshalb hat mich das nicht so gestört.“
Tom Luszeit ist überzeugt, dass die Soldaten zurückkehren müssen. Er ist zurzeit im Gespräch mit dem Bezirksamt. Das wiederum will mit Alexandra Hildebrandt reden. Luszeit und Hildebrandt sind zwei Privatleute, deren Geschichten seit Jahren eng mit dem Ort verwoben sind. Sie teilen das Anliegen, dass er etwas Besonderes bleiben muss und sind doch zutiefst miteinander verfeindet. Sie kämpfen um die erinnerungspolitischen Leerstellen, die die öffentliche Hand hier lässt.
Die falschen Soldaten nennt Hildebrandt ein „Mickymaus-theater“ – aber hat sie nicht mit der nachgebauten Baracke entscheidend zur Disneysierung des Ortes beigetragen? Und was ist mit der nachvollziehbaren Kritik an ihrem Mauermuseum, das den Charme einer Rumpelkammer versprüht? Der Historiker Hanno Hochmuth, der sich am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam mit Erinnerungskultur beschäftigt, urteilte, das Museum lasse „keinen sinnvollen Aufbau“ erkennen. Es verstoße „an allen Ecken und Enden gegen heutige museale Standards“.
Hildebrandt scheint es sich abgewöhnt zu haben, Zweifel zuzulassen. „Das war nun einmal der Stil meines Mannes, und der wird beibehalten“, sagt sie. Kritik an dem Museum lese sie gar nicht mehr. „Ich weiß, was ich tue, ich mache alles richtig, und die anderen sind schlecht.“ Es klingt nicht ironisch.
Der Checkpoint Charlie wird aber nicht nur von der Verkitschung des Kalten Kriegs und Leuten geprägt, die dort Bratwürste oder Erinnerungsfotos verkaufen wollen, sondern auch von jenen, die mit Grundstücken in der besonderen Lage das ganz große Geschäft wittern.
Nach dem Mauerfall sollen die Brachen an der Kreuzung schnell bebaut werden. Schließlich hat der Kapitalismus gerade den Wettstreit der Systeme gewonnen. Ronald Lauder, Erbe des Kosmetikkonzerns Estée Lauder und Milliardär, will die Gegend zum „American Business Center“ machen. Der damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen preist das Projekt 1992 als „wichtiges Signal der Hoffnung“. Hunderte von Firmen will Lauder in fünf Gebäuden ansiedeln, 3.500 neue Arbeitsplätze sollen entstehen.
Aber das Projekt kommt nicht in Gang. Jüdische Alteigentümer erheben Ansprüche auf ein zentrales Grundstück, zwei Jahre ziehen sich die Verhandlungen hin, das Grundstück muss für viel Geld erworben werden, erst dann beginnen die Bauarbeiten.
1997 steigt Lauder aus dem Projekt aus, nur drei Grundstücke werden bebaut, der Rest bleibt Brache. Spötter sagen heute, der Kapitalismus habe sich ausgerechnet an der Stelle, die symbolisch für seinen größten Sieg steht, verhoben.
2003 schlittert die Checkpoint Charlie KG als Nachfolgerin des American-Business-Center-Investors in die Insolvenz, die beiden Grundstücke direkt am ehemaligen Mauerstreifen bleiben unbebaut. Sie fallen an die Insolvenzverwalterin BAG Hamm, eine Bad Bank für Problemfälle der Volks- und Raiffeisenbanken.
Große Träume platzen, Neues entsteht, im März 2003 errichtet eine Firma auf den Brachen ein paar Bretterbuden und ein Veranstaltungszelt. Das Projekt nennt sich „Drehorgelgasse“ und verströmt den Charme einer tristen Vorstadtkirmes. Der Veranstalter wirbt damals mit einer „nostalgischen Gasse, die mit historischen Wandbildern historische Straßenzüge“ nachstellt, mit „Altberliner Flair“. Die damals zuständige Bezirksstadträtin findet das zwar furchtbar, sagt aber auch: „Mit der Kirmes dort ist jetzt die Toilettenversorgung gesichert, die öffentliche Hand hatte dafür nämlich kein Geld.“
Städtebaulicher Stillstand
Nachdem auch die „Drehorgelgasse“ scheitert, pachtet 2004 Alexandra Hildebrandt die unbebauten Grundstücke. Auf den zwei Brachen lässt sie auf weißem Kies 1.065 schwarze Holzkreuze aufstellen. Jedes einzelne soll ein Todesopfer an der deutsch-deutschen Grenze symbolisieren. Die Aktion sei aber auch ein „Protest gegen die Trivialisierung dieses Ortes durch die Stadt Berlin“.
Hildebrandt eröffnet das Mahnmal am 31. Oktober 2004, ihre auf Tafeln gedruckte Erklärung liest sich unmissverständlich: Berlin hat es versäumt, diesen Ort würdevoll zu behandeln und die Erinnerung an die deutsche Teilung wachzuhalten, das mache nun eben sie.
Die Aktion löst eine heftige Kontroverse aus, „geschäftstüchtige Geschichtsklitterung“ wird Hildebrandt vorgeworfen – unter anderem, weil die Zahlen und Namen der Todesopfer nicht ausreichend historisch belegt sind. Das Mahnmal wird bald wieder abgebaut, die Aktion aber gibt den Impuls für einen echten Fortschritt. Die genaue Zahl der Mauertoten wird in einem historischen Forschungsprojekt ermittelt, und der Berliner Senat sieht sich veranlasst, ein Gedenkkonzept für die Berliner Mauer zu entwickeln.
2006 verabschiedet der Senat das Konzept des damaligen Kultursenators Thomas Flierl, die Bernauer Straße wird zu einem pädagogisch fundierten Erinnerungsort ausgebaut, das Brandenburger Tor steht eh da, die bemalte Mauer der East-Side-Gallery auch. Schwierig wird es wieder am Checkpoint Charlie. Dort herrscht erinnerungsmäßig Chaos. Dazu der städtebauliche Stillstand mit den Brachen. Es gibt aber auch Stimmen, die die Brachen als solche erhalten wollen, als Erinnerung an eine Wunde in einer Stadt, die an der Friedrichstraße im ehemaligen Ostteil gar nicht genug gleichförmige Häuserklötze hinstellen kann.
Wenn man heute von dem Kontrollhäuschen in Richtung des ehemaligen Ostteils geht fallen einem die Brachen vielleicht gar nicht als solche auf, weil auf ihnen temporäre Bauten, Buden und Schautafeln stehen. Auf der linken Seite gibt es ein 360-Grad-Panorama, in dem man das Überwältigende des Mauerbaus nachempfinden soll. Rechts hat der Senat eine „Blackbox Kalter Krieg“ aufgestellt, die einen Eindruck davon vermitteln soll, wie museumspädagogisch fundierte Erinnerung aussehen könnte.
2016 tritt dann ein neuer Investor namens Trockland auf. Er will die Brache bebauen. Ein Hardrock-Hotel mit 400 Betten, dazu Wohnungen, Büros, ein neues Museum. Der Senat verhandelt mit Trockland, unterzeichnet eine Absichtserklärung, der Inhalt ist geheim. Gegen das Verfahren gibt es wegen mangelnder Transparenz Widerstand, die Hotelpläne stoßen auf Kritik, weil das Gebäude den ganzen Ort bestimmen und das Museum in den Schatten stellen würde, dann lassen Recherchen von Tagesspiegel und Berliner Zeitung Trockland auch noch als dubiosen Partner mit obskuren Hintermännern und Geld in Steueroasen erscheinen.
Der rot-rot-grüne Senat wird skeptisch und beginnt zu streiten. Im Dezember 2018 kündigt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) die Verabredung mit Trockland auf. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) kündigt eine Änderung der Planungsziele an: weniger bebaute Fläche, dort, wo Trockland das Hotel plant, soll das neue Museum gebaut werden. Die Zeit drängt, denn sobald eine Sperre im Frühjahr 2020 für das Areal ausläuft, könnte der Investor eine Bebauung beantragen, die sich in die Umgebung einfügt. Eine Formulierung, die viel Spielraum für den Investor bietet.
Mittlerweile hat Katrin Lompscher den Bebauungsplan für die Brachen vorgestellt. Östlich der Friedrichstraße soll das Museum für den Kalten Krieg mit 3.000 Quadratmetern Fläche entstehen, außerdem soll dort Platz für Wohnungen und Gewerbe sein, ein Drittel der Wohnungen sollen Sozialwohnungen sein. Auf dem gegenüberliegenden Grundstück sieht der Plan einen Stadtplatz vor, außerdem 28.000 Quadratmeter für Büros und Wohnungen.
Noch ein letztes Treffen im Café Einstein am Checkpoint, diesmal mit Thomas Flierl. Er war 2002 bis 2006 Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, seine Partei hieß damals noch PDS. Flierl trägt Schwarz und verschickt noch ein paar Nachrichten vom Smartphone. 2011 ist er aus dem Abgeordnetenhaus ausgeschieden, seitdem widmet er sich wieder seiner Leidenschaft und macht sich Gedanken über Städtebau, auch in die Diskussion um den Checkpoint Charlie hat er sich eingemischt.
Er sagt dazu: „Die Topografie des Stadtraums ist das eigentliche Medium“, sie müsse erhalten bleiben. Was er damit meint: Die Lücke, die am Checkpoint im Stadtraum entstanden ist, um nach dem Mauerbau Platz für die Grenzanlagen der DDR zu schaffen, sei das, was den Ort präge. Gerade die Lücke erinnere daran, was dort war.
Geschichte aus Sicht der Sieger
Flierl nennt den Checkpoint Charlie „ein Dokument der Nichtbearbeitung“, und er teilt das Unbehagen vieler Berliner, die über diesen Ort die Nase rümpfen. Immerhin habe der Senat gegen die Pläne des privaten Investors gegengesteuert, sagt er. Berlin tue sich aber auch deshalb so schwer mit dem Checkpoint Charlie, weil hier die Geschichte nur aus Sicht der Sieger erzählt werde. Vorschnell sei nach der Wende der Anschluss an die amerikanische Führungsmacht gesucht worden, die Aktionen Hildebrandts hätten den Senat unter Druck gesetzt, kritisiert Flierl.
Aber was schlägt er selbst vor? Er ist dafür, dass Berlin die Flächen übernimmt und dann genau überlegt, wie viel Museum und in welcher Form es dort geben müsse. „Nüchterne, aufgeklärte sachorientierte Informationen, keine Musealisierung des Grusels, ein Ort, an den auch die Berliner gehen.“ Leider habe sich die Koalition dagegen entschieden, die Fläche zurückzukaufen. „Vielleicht erkennt man ja, dass die Privatisierungsorgie der Nachwendezeit ein Fehler war.“
Die Idealvorstellungen von Thomas Flierl werden sich nicht verwirklichen. Unklar ist im Moment, ob es gelingt, den jetzigen Bebauungsplan der Bausenatorin rechtzeitig vom Abgeordnetenhaus verabschieden zu lassen. Sollte das nicht bis zum Februar 2020 gelingen, hätte der Investor auf den zwei Grundstücken weitgehend freie Hand – Erinnerungen an die einstige Leere an diesem Ort mitten in der Stadt könnten hinter Betonfassaden verschwinden.
Es ist die letzte Chance für den Checkpoint Charlie.
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