Chaotischer Wahltag in Berlin: Was war da los?
Der Superwahlsonntag in Berlin war ein Debakel: fehlende Wahlzettel, Warteschlangen. Protokolle von zwei Wahlhelferinnen und einem Wähler.
In der Sitzung sprach laut Gaebler kein Senatsmitglied von einer Wahlanfechtung. Der RBB hatte berichtete, das Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) auf eine Nachzählung in einem Pankower Wahlkreis für das Abgeordnetenhaus dränge. Probleme gab dem Senatskanzleichef zufolge in einer zweistelligen Zahl von Wahllokalen – konkreter mochte er trotz Nachfrage nicht werden. „Egal, ob 50 oder 90 – das heißt auch, dass es in 2.100 Wahllokalen keine Probleme gegeben hat“, sagte Gaebler, „es ist kein Grund, von einem Wahlchaos zu sprechen. Auch die Wahlbeobachter der OSZE – nach seiner Kenntnis vier – seien nicht erst am Sonntag aktuell eingeflogen worden. Dass die vor Ort waren, „sehe ich weder als einen Skandal noch als eine große Besonderheit.“
Für sämtliche Fragen zum Ablauf und warum was wann nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung war, verwies er auf die Wahlleitung. Die wird angeführt von Petra Michaelis, im Hauptberuf in leitender Stellung im Landesrechnungshof tätig. Zu einer Forderung nach ihrer Abberufung erwiderte Gaebler: Der Senat benenne zwar die Wahlleitung und könne sie auf abberufen. Das aber jetzt zu tun, würde aus seiner Sicht wie ein Eingriff des Senats wirken.
Auf eine Sache legte sich der SPD-Politiker fest: „Der Marathon war nicht das Problem.“ Und wenn, dann war dafür nicht der Senat verantwortlich: Man habe auf Bundesebene darauf gedrängt, die Wahl eine Woche früher anzusetzen, was aus Gaeblers Sicht möglich gewesen wäre, doch sei damit nicht durch gedrungen. Eine Verlegung des Laufs sei nicht möglich gewesen, weil der in einen internationalen Wettkampfkalender eingebunden ist.
Das berichten zwei Wahlhelferinnen und ein Wähler der taz:
„Bei der Zuteilung der Wahlzettel für die Zweitstimme der Abgeordnetenhauswahl ist ein schwerer Fehler passiert: Wir hatten sowohl einige korrekte Stimmzettel für unseren Friedrichshain-Kreuzberger Bezirk, wie auch einige für Charlottenburg-Wilmersdorf.
Aufgefallen ist uns das allerdings erst eine knappe halbe Stunde nach Öffnung des Wahllokals – die falschen und die richtigen Zettel lagen in der gleichen Kiste. Das heißt: Einige der ersten Wählerinnen und Wähler bekamen von uns Charlottenburg-Wilmersdorfer Stimmzettel ausgehändigt und haben auf den falschen Zetteln ihre Kreuze gemacht.
Da mit der Zweitstimme eine Partei und nicht eine Person gewählt wird, hat der Wahlvorstand abends gemeinsam beschlossen, die Stimmen auf diesen Zetteln für gültig zu erklären und entsprechend zu werten. Wahrscheinlich handelte es sich lediglich um 10 bis 15 Stimmen.
In der Schule, in der ich als Wahlhelferin eingesetzt war, waren drei Wahllokale untergebracht, alle hatten das gleiche Problem mit den Zetteln aus Charlottenburg-Wilmersdorf. Und alle hatten deutlich zu wenige Zettel für Friedrichshain-Kreuzberg. Die gültigen Wahlzettel wurden aufgeteilt, die Bezirkswahlleitung wurde sofort informiert darüber, dass wir dringend Nachschub brauchen.
Es hat aber gut zwei Stunden gedauert, bis der Kurier mit neuen, richtigen Stimmzetteln eintraf. Sein Kommentar: „Ist halt Marathon draußen. Die Straßen sind ja alle gesperrt.“ Der Kurier kam wenige Minuten, nachdem uns die blauen Zweitstimmenzettel für die Abgeordnetenhaus tatsächlich ausgegangen waren und wir das Wahllokal schon kurz geschlossen hatten. Die Schlange draußen war zu diesem Zeitpunkt an die 150 Meter lang.
Am Abend sollten wir der Wahlleitung nach der Auszählung der Bundestagswahl telefonisch die Ergebnisse aus unserem Wahllokal durchgeben. Doch die Nummer, die wir mitgeteilt bekommen hatten – alle drei Wahllokale in der Schule hatten dieselbe -, funktionierte nicht.
Die Ansage war: „Diese Nummer ist nicht vergeben.“ Erst nach eineinhalb Stunden nahm plötzlich und völlig überraschend jemand am anderen Ende ab. So lange durften wir nicht mit der Auszählung der abgebenen Stimmen für die Abgeordnetenhauswahl, für die BVV und den Volksscheid beginnen. Die Auszählung der Stimmen zog sich deswegen bis kurz nach Mitternacht. Jede:r freiwillige Helfer:in soll 60 Euro Erfrischungsgeld erhalten.“ Eine Wahlhelferin in Kreuzberg, die anonym bleiben möchte (Protokoll: bis)
„Ich gehöre zu einer Gruppe von mehreren hundert Wähler*innen, die am Sonntag keine Erststimme für die Wahl des Abgeordnetenhauses abgeben konnten. In mehreren Wahllokalen in Prenzlauer Berg sind am Nachmittag die Wahlzettel ausgegangen und es war nicht möglich, Nachschub zu organisieren. Von den Verantwortlichen wusste niemand, was zu tun ist. Was mich besonders stört, ist die Tatsache, dass einfach weitergewählt wurde, obwohl keine Wahlscheine vorhanden waren.
Ich war ungefähr zwei Stunden im Wahllokal 717 und in dieser Zeit haben alle Menschen dort ohne Erststimme gewählt. Ich weiß überhaupt nicht, was jetzt aus meiner Erststimme gemacht wurde. Ist sie ungültig? Gelte ich als Nichtwähler? Es sollte geklärt werden, in welchem Ausmaß ohne Erststimmen gewählt wurde. Wenn sich also herausstellt, dass die fehlenden Stimmen einen Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt haben könnten, sollte die Wahl unbedingt wiederholt werden.“ Felix H., Wähler (Protokoll: gug)
„Ich bin schon das vierte oder fünfte Mal bei einer Wahl als Wahlhelferin dabei, aber so etwas gab es noch nie. Wir haben schon etwas früher gemerkt, dass die Wahlzettel knapp wurden und haben dann auch mehrmals im Wahlamt angerufen, aber da ging niemand ran. Erst nach mehreren Anrufen konnten wir jemanden erreichen, aber bis die Wahlzettel kamen, mussten wir das Wahllokal schon für ungefähr eine Stunde schließen. Die meisten Menschen haben verständnisvoll reagiert.
Manche haben ihre Thermoskannen ausgepackt und die Zeit für ein Teekränzchen genutzt. Wir haben dann aber trotzdem die Polizei gerufen, um die verärgerten Leute zu beruhigen. Die Polizei ist dann mit Sondersignal los, um neue Stimmzettel zu besorgen. So etwas darf nicht passieren, es ist einfach schade um die Wahl.“ Susanne Schmidt, Wahlhelferin in Wilmersdorf (Protokoll: gug)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs