Chancenaufenthaltsrecht für Geduldete: „An der Realität vorbei“
Die Ampel will Geduldeten eine Perspektive geben. Der Gesetzentwurf sei zu lückenhaft, kritisiert Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat.
taz: Frau Böhm, am Mittwochabend hat der Bundestag in erster Lesung über das sogenannte Chancenaufenthaltsrecht diskutiert. Menschen, die seit mindestens fünf Jahren in Deutschland geduldet sind, sollen einmalig die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen: Sie haben ein Jahr Zeit, um alle nötigen Bedingungen zu erfüllen. Damit will die Ampelkoalition beenden, dass Menschen jahrelang in völliger Unsicherheit leben. Für Sie als Flüchtlingsrat ist das ein Grund zur Freude, oder?
Johanna Böhm: Die Idee ist total begrüßenswert und wir waren alle positiv überrascht, als wir den Koalitionsvertrag gelesen haben. Aber je genauer man hinschaut, desto mehr merkt man, dass dieses Gesetz in ganz vielen zentralen Punkten an wirklichen Verbesserungen komplett vorbeigeht.
35 Jahre alt, ist Mitarbeiterin des Bayerischen Flüchtlingsrats. Die Organisation setzt sich ebenso wie die anderen Landesflüchtlingsräte für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen ein.
Wo denn zum Beispiel?
Es ist ein sehr schönes Vorhaben, Kettenduldungen zu verhindern. Aber dieses Gesetz hat eine Stichtagsregelung …
… Der Entwurf richtet sich nur an Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland geduldet waren …
… Genau. Es ist eine Altfallregelung und bietet keinerlei Chance für diejenigen, die an den fünf Jahren knapp vorbeischrammen. Wer seit viereinhalb Jahren hier ist, bekommt keine Chance. Für diese Menschen geht es perspektivisch weiter damit, dass sich Duldung an Duldung reiht. Es ist ein guter, aber überhaupt nicht nachhaltiger Ansatz. Da muss dringend eine Entfristung her.
Geplant sind aber einerseits weitere Erleichterungen für gut integrierte Geduldete und eine verbesserte Durchsetzung der Ausreisepflicht andererseits – also Abschiebungen. Ist das nicht ein Weg, jahrelange Kettenduldungen gar nicht erst nachwachsen zu lassen?
Dass gut integrierte Geduldete künftig früher ein Bleiberecht bekommen sollen, ist super. Aber das nimmt keineswegs alle mit. Viele Menschen werden die vielen Bedingungen nicht erfüllen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Und die Antwort kann doch nicht sein, zu sagen: Alle, die in unsere neue Bleiberechtsregeleung nicht reinpassen, schieben wir ab. Es gibt ja gute Gründe für Duldungen. Niemand darf in Lebensgefahr zurückgeschickt werden.
Sie kritisieren, dass die Bedingungen für den dauerhaften Aufenthaltstitel viel zu hoch seien. Was genau meinen Sie?
Man muss in diesem einen Jahr seine Identität klären und nachweisen, dass man seinen Lebensunterhalt selbst finanziert. Damit richtet dieser Entwurf sich eigentlich nur an sehr leistungsfähige und gesunde Menschen. Was ist aber mit Alten, Traumatisierten, mit Kranken, Behinderten, Alleinerziehenden oder Analphabet*innen? Die werden das kaum schaffen. Auch für viele andere wird das aufgrund des bisherigen Umgangs mit Geduldeten nicht machbar sein. Nachdem sie jahrelang ausgegrenzt wurden, keinen Sprachkurs und keine Arbeitserlaubnis bekommen haben, sollen sie aus dem Stehgreif eine vierköpfige Familie versorgen? Das ist realitätsfern. Und dann macht die Praxis vieler Ausländerbehörden den Menschen auch noch einen Strich durch die Rechnung.
Inwiefern?
Am Beispiel Bayern sieht man, wie das Gesetzesvorhaben und die Praxis der Ausländerbehörden eklatant auseinandergehen. Es besitzen gar nicht alle abgelehnten Asylbewerber*innen eine Duldung. Manche Ausländerbehörden stellen gar nicht erst eine aus oder erkennen sie wieder ab, stattdessen gibt es Grenzübertrittsbescheinigungen oder Fiktionsbescheinigungen, manche Menschen haben gar keine Papiere. Statt von Geduldeten sollte im Gesetz deswegen besser von „ausreisepflichtigen Ausländern“ die Rede sein – sonst haben viele von denen, die gemeint sind, letztlich gar keinen Zugang.
Sie haben auch kritisiert, dass Straftäter*innen vom Chancenaufenthaltsrecht ausgenommen sind. Dabei ist das doch nachvollziehbar, oder?
Das mit den Straftätern ist eine beliebte Floskel, bei der Union wie auch bei der Ampel. Aber in der Pauschalität ist das gefährlich. Wir kennen das von Abschiebungen nach Afghanistan, da ist auch immer von Straftätern die Rede. Die Leute stellen sich dann eine schwerstkriminelle Person vor. Dabei geht es oft nur um Kleinigkeiten.
Zum Beispiel?
Der aktuelle Gesetzentwurf schließt alle vom Chancenaufenthaltsrecht aus, die mehr als 50 Tagessätze bei normalen Delikten und mehr als 90 bei aufenthaltsrechtlichen Sachen bekommen haben. Darunter fällt dann schon ein Verstoß gegen die Residenzpflicht oder eine Anklage wegen illegaler Einreise, das ist in Bayern besonders beliebt – und besonders zynisch. Denn die Menschen haben ja überhaupt keinen legalen Weg zur Einreise. Oder man wird mehrfach beim Fahren ohne Fahrschein erwischt. Man kann solche Regelungen zu Straffälligkeit nicht loslösen von der Armut, der Perspektivlosigkeit und den eingeschränkten sozialen Rechten, die ein Leben mit so einer Duldung bedeutet. Wenn ich nur 150 Euro im Monat zum Leben habe, kann es schnell passieren, dass ich mich mal ohne Ticket in die U-Bahn setze. Aber für diese Leute fallen dann alle Bleiberechtsperspektiven weg.
Im Entwurf ist die Rede von 136.605 Geduldeten, die Ende 2021 seit mehr als fünf Jahren in Deutschland waren. Wie vielen davon wird das Gesetz Ihrer Meinung nach helfen?
Wir sind da leider pessimistisch: eher wenigen. Es gibt zu viele Einfallstore für Ausländerbehörden, um die geplanten Regelungen zu unterwandern.
Das haben Sie vorhin schon angesprochen. Warum sollten die Ausländerbehörden denn solche Regelungen unterwandern wollen?
Weil sie den Landesinnenministerien unterstehen, und die fahren da nun mal sehr unterschiedliche Kurse. Es gibt zum Beispiel Bundesländer mit Vorgriffserlassen – da haben die Ministerien die Ausländerbehörden angewiesen, schon jetzt im Sinne des künftigen Chancenaufenthaltsrechts zu handeln. Dort werden Menschen, die perspektivisch von dem Gesetz profitieren können, erst einmal nicht abgeschoben. Und dann gibt es andere Länder wie Bayern, da werden ganz ähnliche Fälle immer noch abgeschoben. Plötzlich sitzt eine bestens integrierte Person im Abschiebeflieger, der vor ein paar Tagen erst Duldung und Arbeitserlaubnis entzogen wurden. Was läuft denn da schief? Dieses Bundesgesetz müsste viel unmissverständlicher formuliert sein. Solange es so viele Schlupflöcher lässt, ist gerade aus den unionsgeführten Ländern mit ohnehin restriktivem Kurs in der Asylpolitik nicht viel zu erwarten.
Die Union kritisiert, das Gesetz schaffe Anreize, auch ohne Aussicht auf Asyl nach Deutschland zu kommen. Zurecht?
Dahinter steht die falsche Annahme von Pull-Faktoren – dass also Bleiberegelungen illegale Migration anziehen. Das geht völlig an der Realität vorbei. Menschen nehmen nicht deswegen jahrelange und unfassbar gefährliche Fluchtwege auf sich, weil in Deutschland die Bedingungen so phänomenal sind. Sondern sie fliehen vor Krieg, Umweltkatastrophen oder Verfolgung. Da spinnt die Union ihr rechtes Narrativ weiter, um Stimmen von rechts abzugreifen. In Bayern zum Beispiel wird nächstes Jahr gewählt.
Die Ampel hat noch weitere migrationspolitische Pläne: Fachkräfteeinwanderung erleichtern, unabhängige Asylverfahrensberatung einführen, Staatsangehörigkeitsrecht reformieren. Erkennen Sie in diesen Vorhaben den versprochenen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik?
Die Ampel strebt viele positive Veränderungen an, die wir klar begrüßen. Dass Asylsuchende nach der Einreise endlich unabhängig über das Asylverfahren beraten werden und nicht mehr vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ist ein unfassbar wichtiger Schritt. Aber im jetzigen ersten Aufschlag sehen wir eben auch viele Zugeständnisse an die Union und ihre Stimmungsmache. Nicht zufällig spricht Bundesinnenministerin Nancy Faeser gerade dauernd von illegaler Migration und Grenzschutz. Kampfbegriffe, wie sie auch von ihrem Vorgänger Horst Seehofer hätten kommen können. Währenddessen verlieren immer noch Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer. Ein humanitärer Paradigmenwechsel sieht anders aus.
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