C-Waffen-Angriff in Syrien: Giftiger Streit über Giftgas
Die Zahl der Toten des Angriffs von Chan Scheichun steigt auf 72. Russland stellt sich schützend vor die Assad-Regierung.
Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten Syriens Regierung für den Tod von mindestens 72 Menschen durch Giftgas im Ort Chan Scheichun im syrischen Rebellengebiet der Provinz Idlib Dienstagfrüh verantwortlich gemacht. Der Ort wurde am Mittwoch nach Angaben der lokalen Zivilverteidigung erneut aus der Luft angegriffen.
Sowohl Syriens als auch Russlands Regierungen haben bestätigt, dass die syrische Luftwaffe Angriffe auf Chan Scheichun geflogen hat. Sie behaupten aber, dass dabei keine chemischen Kampfstoffe eingesetzt wurden.
Vielmehr, so das russische Verteidigungsministerium, hätten die Angriffe zwischen 11.30 Uhr und 12.30 Uhr Ortszeit „ein wichtiges Munitionslager von Terroristen“ getroffen, in dem sich „Werkstätten zur Herstellung von Projektilen voller Giftstoffe“ befanden. „Aus diesem wichtigen Arsenal heraus wurden chemische Waffen an Militante im Irak geliefert“, behauptete Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow weiter.
Chemiewaffen gehen anders
Die russische Version wurde umgehend von Experten als unglaubwürdig zurückgewiesen. Zum einen gab es die ersten Berichte und Bilder vom Angriff bereits um 9.33 Uhr Ortszeit am Dienstag. Zum Zweiten, wie ein Chemiewaffenexperte im BBC-Interview ausführte, sei es nicht möglich, durch einen Luftangriff die Ausbreitung von am Boden gelagerten Giftgas herbeizuführen.
Chemische Kampfstoffe wie das infrage kommende Sarin werden im Allgemeinen sowieso nicht als solche aufbewahrt, weil sie dafür viel zu instabil sind. Ihre Komponenten werden getrennt gelagert und direkt vor dem Einsatz kombiniert, um mittels chemischer Reaktion zum Kampfstoff zu werden, erklärt der britische C-Waffen-Experte Dan Kaszeta. Aus Syrien – dessen Regierung nach verheerenden Giftgasangriffen nahe Damaskus im August 2013 unter internationaler Aufsicht einen Großteil, aber nicht 100 Prozent, ihrer Chemiewaffenbestände vernichtet hat – sei kein anderer Umgang mit C-Waffen bekannt.
C-Waffen-Experte Dan Kaszeta
„Selbst unter der Annahme, dass große Mengen der beiden Sarin-Komponenten im gleichen Teil der gleichen Lagerstätte aufbewahrt worden seien – und das wäre eine merkwürdige Praxis –, führt ein Luftschlag nicht zur Entstehung großer Mengen Sarin“, so Kaszeta. „Auf die Komponenten eine Bombe zu werfen, ist nicht der korrekte Mechanismus, um Nervengas herzustellen.“
Alle Experten sagen, die vorliegenden Informationen würden auf die Freisetzung von Giftgas im Rahmen eines Luftangriffs hindeuten, wofür in Syrien nur das Regierungslager infrage kommt. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), die seit 2014 im UN-Auftrag Vorwürfe von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien untersucht, sagte, sie sei dabei, „Informationen von allen verfügbaren Quellen zu sammeln und zu analysieren“.
Erste Teams sind aus der Türkei unterwegs, wohin auch überlebende Opfer evakuiert worden sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance