Bundespräsidenten-Kandidat der Linken: Gass statt Schloss
Als Arzt ist Gerhard Trabert viermal pro Woche in Mainz unterwegs, um sich um obdachlose Patienten zu kümmern. Eine Begleitung im Arztmobil.
Der 65-Jährige steuert das Auto selbst. Die medizinische Unterversorgung von Obdachlosen treibt ihn seit vier Jahrzehnten um. Als junger Sozialpädagoge habe er in der Krankenhaussozialarbeit erlebt, wie es um deren Gesundheit steht. „Sie sind oft nicht versichert, haben kein Geld und werden und wurden von Ärzten oft schlecht behandelt“, sagt der Mann, den die Linken vor zwei Wochen für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen haben.
Trabert ist Professor für Sozialmedizin der Hochschule Rhein-Main. Sein Beruf als Hochschullehrer gebe ihm Freiheit, sagt er und lässt den Kastenwagen an diesem kalten Morgen an. „Meine Studenten schätzen das, dass ich nicht nur Theorie vermittle, sondern auch aus der Praxis berichten kann“, versichert er und fährt los. Vom Straßenrand winkt ein junger Mann mit einer großen Tragetasche. Trabert grüßt freundlich zurück. Er kennt den Mann mit Namen und weiß viel über ihn, wie über die meisten, denen er an diesem Vormittag begegnet. „Der Mann sammelt Pfandflaschen und leidet unter Corona, weil ihm seine Einnahmequelle weggebrochen ist.“
An der Teestube auf der Mainzer Zitadelle wartet schon ein halbes Dutzend PatientInnen. Eine Frau bittet um ein starkes Schmerzmittel gegen ihre Rückenschmerzen. Ein zahnloser junger Mann aus Polen klagt über Bauchschmerzen. Er bekommt ein Medikament zur Reduzierung der Magensäure. „Sie müssten mal wieder eine Magenspiegelung machen lassen“, mahnt Trabert. „Es könnte zu Blutungen kommen.“
Cargohose statt Arztkittel
Trabert trägt eine graue Cargohose, dazu einen grauen Anorak und feste Schuhe. Er unterscheidet sich äußerlich wenig von seinen PatientInnen. Er trägt keinen Arztkittel. Nur einmal streift er grüne OP-Handschuhe über, als er einer jungen Frau ein Pflaster mit einer Heilsalbe auf ein schmerzhaftes Furunkel auf den Rücken klebt. In der von ihm begründeten „Ambulanz ohne Grenzen“ nebenan gibt es kostenlos Beratungen von Fachärzten, doch viele der Obdachlosen meiden Praxisbesuche, auch wenn sie anonym und kostenlos sind.
Ein 42-Jähriger, der auf Krücken zum Arztmobil humpelt, hat eine lange Odyssee hinter sich. Übergewicht, offene Beine, Zusammenbruch. Trabert und er kennen sich seit Jahren, aber Händeschütteln ist nicht, wegen Corona. „Er ist ein Super-Gitarrist“, stellt der Arzt seinen Patienten vor. „Er hat auch schon mal bei einem Fest in unserer Teestube gespielt.“
Stolz zeigt der Bluesfan dem „Doc“ seine vernarbten Beine. Auch die Ödeme am Bauch sind zurückgegangen. 70 Kilo hat er abgenommen. Das Treppensteigen in seine Wohnung im 4. Stock geht wieder besser. Kein Alkohol, Verzicht auf das Nebenbeiessen! „Toll, wie diszipliniert Sie sind“, freut sich Trabert und verschreibt Vitamin D3 und Entwässerungstabletten.
Chancenlos in der Bundesversammlung
Sein Patient bittet noch um einen Aufkleber auf dem Rezept, der ihn von Zuzahlungen befreit. In diesem Monat kann er sich wohl die Krankenversicherung nicht leisten, wegen der hohen Nachzahlung für Strom und Heizung. Von Traberts Bewerbung für das Amt des Bundespräsidenten weiß er aus den Medien. „John F. Kennedy ist auch nicht im ersten Anlauf Präsident geworden“, macht er dem aussichtslosen Kandidaten Mut. Nur 71 der 1.472 Mitglieder der Bundesversammlung werden von der Linken gestellt.
Trabert fragt noch nach der Corona-Impfung. Der Patient winkt ab. Wenigstens ein paar Masken nimmt er mit. „Ich kann den Menschen nur Dinge empfehlen; wenn sie ablehnen, muss ich das akzeptieren“, sagt Trabert. Die Mehrheit seiner Patienten sei allerdings geimpft und geboostert.
Mehr als ein Dutzend Menschen behandelt Trabert bis zum Mittag. Er verteilt ein starkes Schmerzmittel an einen jungen Mann und eine junge Frau. Beide klagen über Panikattacken. Der Arzt weiß von ihren psychischen Problemen. Der junge Mann bittet um eine ärztliche Verschreibung, „Für die Polizei, sonst nehmen mir die die Tabletten wieder weg!“ Er bekommt beides unter der Bedingung, dass er in der nächsten Woche den Psychiater in der Ambulanz aufsucht.
„Eigentlich dachte ich, dass ich das nur ein paar Jahre machen muss“, sagt Trabert auf dem Weg zum nächsten Stellplatz. „Längst müssten staatliche Stellen diese Versorgung übernommen haben. Wir wollten nicht die Tafel für die Obdachlosen sein.“ Doch es hat sich nach seinem Eindruck wenig geändert.
Aufsuchende Medizin im Wortsinn
Bei der Schlussrunde durch die Mainzer Altstadt klappert Trabert die Stammplätze zu Fuß ab. Es ist aufsuchende Medizin im Wortsinn. Am Leichhof hinter dem Dom trifft er einen Mittsechziger, der alle Klischees bedient, neben ihm auf der Bank eine halbvolle Rotweinflasche. Die Sonne schickt ein paar wärmende Strahlen. Der Mann krächzt, aber er ist gut drauf. „Wie geht’s Ihnen?“, fragt Trabert höflich. „Ich weiß es nicht!“, antwortet der Obdachlose. „Heute Abend gehe ich zu meinem Schlafplatz und dann sehe ich erst, ob noch alles da ist, die Matratze und der Schlafsack.“ – „Reicht das Geld?“ – „Ich bin versorgt“, sagt der Mann. „Ich kann mehr gebrauchen, aber wenn ich mehr habe, gebe ich auch mehr aus“, kichert er in sich hinein. Immerhin fragt er vorsichtshalber nach einem neuen Schlafsack, falls der alte weg ist. „Viele von ihnen sind liebenswerte Chaoten“, sagt Trabert.
Auf dem Pflaster, unter dem Barockportal der Augustinerkirche, trifft der Arzt zwei Stammkunden an. Sie haben eine Konservendose aufgestellt und hoffen auf milde Gaben von Besuchern der Mittagsmesse. Noch ist viel Luft in ihrer Büchse. Der Alte hat Probleme mit den Knochen. Die Beine wirken verdreht. „Der Finger knallt“, sagt er und führt das defekte Gelenk im Mittelfinger vor. „Klack, klack“, macht er das unangenehme Geräusch nach, wenn er den Finger beugt. Er hat auch Last mit dem Atmen: „Das Spray hilft nicht mehr.“ Man vereinbart einen Termin in der Ambulanz auf der Mainzer Zitadelle.
Sein Kumpel wirkt reserviert. Erst als sich Trabert zum Gehen wendet, lässt er Dampf ab. „Ich wollte ja nichts sagen, aber das mit den Nazis, das hat mir nicht gefallen, ich bin nämlich gegen die“, sagt er und fügt hinzu: „Sie sind doch der Arzt meines Vertrauens!“
Seit Traberts Rede beim Jahresauftakt der Linken am vergangenen Samstag verfolgen ihn seine eigenen Sätze: „Wie damals viele Deutsche wussten, was mit den Juden geschieht, ist es heute so, dass wir wissen, was mit geflüchteten Menschen im Mittelmeer, in libyschen, in syrischen Lagern geschieht. Wir wissen, wie die Armut zunimmt, wir wissen um die erhöhte Sterberate von armen Menschen, auch hier in Deutschland. Das ist ein Skandal!“
Kritik von der FDP
Postwendend erkannte FDP-Fraktionsgeschäftsführer Johannes Vogel in den Worten einen Tabubruch. Der Vergleich sei „absolut inakzeptabel und ebenso wirr wie historisch entglitten“, sagte er der Welt am Sonntag. Trabert stellte sich gegen den Shitstorm: „Es geht mir nicht um die historische Gleichsetzung. Das von den Nationalsozialisten verursachte Leid vieler Menschen war unbeschreiblich größer und ist nicht vergleichbar“, schob er auf Twitter nach.
„Es ist gut, dass Sie das angesprochen haben“, dankt der Arzt seinem kritischen Patienten und erläutert seine Position. „Es ist eine falsche Darstellung, wenn behauptet wird, dass ich die Verfolgung von Juden in der NS-Zeit mit heutigen Ausgrenzungen vergleichen würde“, sagt Trabert. „Ich habe mich auf das damalige Wegschauen bei Unrecht und Menschenrechtsverletzungen bezogen, das den Holocaust erst möglich gemacht hat, und jetzt wird wieder weggeschaut.“ Ihm habe sich dieser Gedanke beim Flug über das Mittelmeer zu einem Einsatz im Flüchtlingslager Moria aufgedrängt. „Die Flugzeugcrew hat sich dafür entschuldigt, dass der Sekt ausgegangen war.“
Seinen skeptischen Patienten vor der Augustinerkirche kann Gerhard Trabert überzeugen „Ich vertraue Ihnen“, sagt der zum Abschied. Arzt und Patient verabschieden sich, Faust an Faust.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles