Bürgermeisterwahl in Hannover: Onay? Oh ja!
Seit Ewigkeiten stellt die SPD in Hannover fast immer den Oberbürgermeister. Plötzlich könnte ein Grüner gewinnen. Wer ist Belit Onay?
Drei Stunden steht Onay, 38, ein großer Typ mit schmalem Gesicht und Fünftagebart, an diesem Dienstagvormittag schon vor der Leibniz-Universität in Hannover. Ein Wahlkampfstand, Sonnenschirm inklusive, gelbes Laub auf der Wiese, dahinter der imposante Sandsteinbau der Uni, das ehemalige Welfenschloss.
Eine junge Frau bleibt stehen, redet kurz mit Onay. Die meisten lächeln nur zurück und nehmen einen Flyer mit. Kurze Pause, nächste Ampelphase, alles von vorn.
In der Politik ist Timing oft alles. Am Sonntag wird in Hannover ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Gut möglich, dass Onay den richtigen Moment erwischt, um eine kleine Sensation zu schaffen. Denn: Onay, das ist das Besondere, ist ein Grüner.
Hannover aber ist rot. Hier regiert traditionell die SPD. Die Großstadt in Niedersachsen war die erste überhaupt, die einen Sozialdemokraten zum Oberbürgermeister wählte, den Maler Robert Leinert im Jahr 1918. Hier wurde die SPD 1946 von Kurt Schumacher neu gegründet, nach dem Zweiten Weltkrieg, als die halbe Stadt in Trümmern lag. Hier regierten seither fast ununterbrochen die Sozialdemokraten.
Die SPD glaubte lange, Hannovers Rathaus sei so etwas wie ihr persönliches Eigentum. Vielleicht zu lange. Erst Mitte September wurden die KandidatInnen fürs Bürgermeisteramt bei einer Verdi-Veranstaltung vom Moderator gefragt, ob sie glaubten, dass es eine Stichwahl geben werde. Alle außer einem bejahten.
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Der eine: Onays SPD-Konkurrent, der ehemalige Stadtkämmerer Marc Hansmann. Er ging davon aus, schon im ersten Wahlgang mehr als die Hälfte der Stimmen zu bekommen. So tickt Hannovers SPD.
Ein Oberbürgermeister Belit Onay wäre etwas Neues, vielleicht der Beleg für eine Zeitenwende. Die Grünen, die die SPD als führende Kraft der linken Mitte ablösen wollen, gewannen lange nur im Südwesten den Wettbewerb um Rathäuser. Stuttgart, Tübingen, Freiburg. Ein Sieg in Hannover wäre ein weiterer Beweis dafür, dass die Grünen in Deutschland mehrheitsfähig sind.
Onay hat eine echte Chance. Eine vor einer Woche veröffentliche Umfrage der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung deutet auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Eckhard Scholz, der parteilose Kandidat, der für die CDU ins Rennen geht, kam auf 28 Prozent der Wählerstimmen, knapp dahinter lag der Grüne Onay mit 26 Prozent. Der Sozialdemokrat Hansmann kam mit 23 Prozent nur auf Platz drei. Er lag also falsch bei Verdi. Eine Stichwahl ist so gut wie sicher, und danach ist alles möglich.
Die Erzählung der Grünen geht so: Onay könnte am Sonntag als einer der zwei besten KandidatInnen in die Stichwahl einziehen. Die findet am 10. November statt. Warum sollte Onay dann nicht gegen den CDUler gewinnen? Schließlich dürften viele SPD-WählerInnen, was er inhaltlich vertritt, besser finden als die Vorstellungen der Konservativen.
Alles könnte passen. Die SPD hat sich selbst durch eine Rathausaffäre geschwächt. Der ehemalige Oberbürgermeister Stefan Schostok war im April zurückgetreten, weil er von unzulässigen Gehaltszuschlägen für Spitzenbeamte gewusst haben soll. Verdacht auf schwere Untreue, das klebt. Für Onay öffnete sich ein Fenster, eine Ampel sprang auf Grün.
Ein Video für Instagram? Klar. Onay stellt sich vor der Universität dicht neben einen jungen Grünen. Der hält sein Smartphone im ausgestreckten Arm, moderiert kurz an, dann legt Onay los. Bitte geht wählen am 27. Oktober. Wohnen dürfe kein Luxus sein. Er wolle bezahlbare Wohnungen schaffen, gegen Obdachlosigkeit kämpfen.
Kurze, präzise Sätze, gut 20 Sekunden. Onay lächelt noch 2 Sekunden in die Kamera, damit man schneiden kann. Fertig. Dieses Statement könnte die „Tagesschau“ sofort senden.
Onay ist ein Profi, aber einer, der sich noch nicht die glatte Plastiksprache anderer Berufspolitiker angewöhnt hat. Ihm rutscht immer mal wieder ein „krass“ in die Antworten, oder er sagt, dass ihn etwas „tierisch“ aufrege. Wenn er mit großen Schritten den Engelbosteler Damm in der Nordstadt entlangeilt, winkt er mal links, mal rechts. Ein Radfahrer wünscht im Vorbeifahren viel Erfolg. „Danke.“ „Hi, grüß dich.“ „Merhaba.“
Auch das ist etwas Besonderes: Onay, Kind türkischer Gastarbeiter, wäre der erste türkischstämmige Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt. Er bezeichnet sich als „liberaler Muslim“. Grüne, die man auf Onay anspricht, sagen nur halb im Scherz: „Was London kann, kann Hannover schon lange.“
Das sagen Grüne, die auf Onay angesprochen werden
In London regiert seit 2016 Sadiq Aman Khan, der erste Muslim im Rathaus der britischen Hauptstadt überhaupt. Klar, der Vergleich ist hoch gegriffen. Bis Hannover eine Millionenmetropole ist, wird noch viel Wasser die Leine hinabfließen. Dennoch, ein Sieg Onays wäre in Zeiten, in denen AfDler Gastarbeiter als „Gesindel“ bezeichnen, ein Symbol. Onay repräsentiert eine vielfältige, bunte Stadtgesellschaft, anders als die älteren, weißen Kandidaten der – ehemaligen – Volksparteien.
Mit dem CDUler Scholz, Spitzname „Ecki“, tritt ein ehemaliger Volkswagen-Manager an, der SPDler Hansmann saß insgesamt 15 Jahre im Stadtrat. Erneuerung sieht anders aus.
Onay wiederum spielt gerne mit dem Image des jungen, frischen Herausforderers. Selbst Leute aus der Industrie, die mit den Grünen wenig am Hut hätten, erhofften sich von der Wahl Strahlkraft, erzählt er. Und sagten, sie wollten „keine graue Maus“ als Bürgermeister. Wobei auch Onay eine klassische Politikkarriere hingelegt hat. Jurastudium, Mitarbeiter bei einer Landtagsabgeordneten, drei Jahre Ratsherr im Stadtrat Hannover, seit 2013 Landtagsabgeordneter. Im Fall einer Niederlage fiele er weich.
Deutsch lernen mit der Bild
Onay erzählt in einem Café von dem Moment, der ihn politisiert hat. Seine Eltern kamen in den 1970ern aus Istanbul nach Goslar, junge Leute, die ein Restaurant betrieben und zuerst planten, irgendwann in die Heimat zurückzukehren. Die Bild lag immer auf dem Küchentisch, mit ihr brachte sich der Vater Deutsch bei. Kurze, einfache Sätze. Ein Kind kam, dann das zweite, Deutschland wurde zur Heimat.
Dann passierte Solingen. 1993 verübten vier Rechtsextreme den Brandanschlag auf das Haus einer türkischstämmigen Familie. Fünf Menschen starben. Helmut Kohl weigerte sich, zur Trauerfeier zu gehen.
Belit Onay war zwölf Jahre alt. Die Tante aus der Türkei rief an und fragte, ob die Familie in Gefahr sei. Onay redet ruhig, er hat die Geschichte schon oft erzählt. Seine Eltern hätten Angst gehabt. Es habe eine Stimmung geherrscht, als werde Jagd auf Menschen gemacht. „Damals habe ich zum ersten Mal realisiert, dass es in Deutschland eine Rolle spielt, woher Menschen kommen, wie sie heißen oder welche Hautfarbe sie haben.“
Halle ist ein Flashback
Neulich habe er mit jüdischen Freunden zusammengesessen, die überlegten, nach Tel Aviv zu ziehen. Die Eltern zögerten, ihre Kinder in eine Kita mit Polizeischutz zu schicken. „Halle, das ist für mich heute, über 25 Jahre nach Solingen, wie ein Flashback. Diese Gewalt, die in der Luft liegt.“
Onay sieht seinen Migrationshintergrund nüchtern als „Mehrwert“. Er verstehe, sagt er, wie Teilhabe funktioniere, woran sie scheitere, wie sie gelinge. „Bei vielen meiner Freunde ist es scheiße gelaufen. Sie sind gescheitert. Obwohl sie ähnliche Startvoraussetzungen hatten wie ich.“ Mit den meisten Leuten diskutiere er aber zum Glück über Themen, nicht über seine Person.
Was Onay mit Hannover vor hat, kann man als ambitioniert bezeichnen. Er verspricht, eine autofreie Innenstadt bis 2030 durchzusetzen. Das ist eine Ansage in Hannover, das stets als Musterbeispiel für die „autogerechten Stadt“ galt. Hier rauschen jeden Tag Tausende Autos über eine vierspurige Hochstraße durch die Innenstadt.
Die Grünen werden in der Bundespolitik ja gerne als Autohasser diskreditiert, die den Deutschen ihr liebstes Stück madig machen wollen. FDP-Chef Christian Lindner wettert gegen einen „Kulturkampf gegen das Auto“.
Läuft das in Hannover auch so ideologisch? Onay zögert keine Sekunde. Nein, diese Angstdebatte sei erledigt. „Auch Skeptiker sagen inzwischen: Okay, lassen Sie uns nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie reden.“ Einzelhändler fragten zum Beispiel, wie ihre Kunden aus dem Umland ohne Auto in die Innenstadt kämen. Was mit dem Lieferverkehr sei. Solche Sachen.
Pragmatiker nicht Ideologe
Onay ist kein Ideologe, keiner, der die reine Lehre vertritt. Ihm geht es um machbare Schritte. Sein Konzept für eine autofreie Innenstadt ist weniger radikal, als es scheint. Anwohner sollen zum Beispiel weiter Auto fahren dürfen. Auch der Lieferverkehr oder die Anfahrt zu einzelnen Parkhäusern blieben frei. Und ein 365-Euro-Ticket für Busse und Bahnen würde den Umstieg erleichtern.
Onay zeigt durch das Caféfenster hinaus auf den Engelbosteler Damm. Eine Einkaufsstraße mit breiten Bürgersteigen, Parkbuchten und zwei Autospuren. Lieferwagen parken in der zweiten Reihe, Radspuren gibt es nicht. Onay wohnt mit seiner Frau und seinem eineinhalbjährigen Sohn um die Ecke.
Er selbst traue sich häufig nicht, hier Fahrrad zu fahren, sagt er. „Wer sich auf dem Rad seines Lebens nicht sicher fühlt, wenn er zur Arbeit fährt, nimmt weiter das Auto. Alternativen müssen sicher und bequem sein.“
Eigentlich müsse man Stadtplanung von den Schwächsten her denken, sagt er. Also erst für Fußgänger planen, dann für Radfahrer. „Und das, was übrig bleibt, bekommen Busse und Autos.“ Den Raum neu zu verteilen sei auch eine Frage der Lebensqualität. Es klingt, als könnte Hannover eine Revolution bevorstehen.
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