Bürgergeld und Stereotype: Von „schuldigen“ und von „unschuldigen“ Arbeitslosen
Der Jobmarkt schwächelt. Das könnte künftig die Klischees über Arbeitslose wieder verändern. Die Ambivalenz kennt man aus der Historie von Hartz IV.

N ormalerweise steigt die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit sinkt im Frühjahr, wenn es wärmer wird. Doch in diesem Mai bleibt die Belebung hinter früheren Jahren zurück, meldet die Bundesagentur für Arbeit in ihrem am Mittwoch erschienenen Monatsbericht.
Die Zahl der Arbeitslosen sank im Mai im Vergleich zum Vormonat um lediglich 12.000 auf 2,919 Millionen Menschen. Das sind 197.000 mehr als vor einem Jahr. „Der Arbeitsmarkt bekommt nicht den Rückenwind, den er für eine Trendwende bräuchte. Daher rechnen wir für den Sommer auch mit weiter tendenziell steigenden Arbeitslosenzahlen“, sagte Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit.
Verschlechterungen bei den Arbeitsmarktzahlen, Berichte über Stellenabbau, Bilder von Belegschaften im Fernsehen, die vor den Werktoren für den Erhalt ihres Standortes demonstrieren – wenn sich diese Meldungen in der Zukunft häufen, könnte das auch Auswirkungen haben auf die Stereotypisierungen von Arbeitslosen, die in der Öffentlichkeit über Erwerbslose kursieren.
Dazu ist ein Blick in die Historie von Hartz IV sehr aufschlussreich und auf den Wandel in den Rollenbildern von Arbeitslosen.
Wechselnde Narrative
Derzeit herrscht das Narrativ, dass Arbeitslose sich oftmals nicht genug anstrengen und anpassen. Der Begriff „Bürgergeld“ für die Grundsicherung, vor zwei Jahren erst eingeführt, soll wieder abgeschafft werden. Auf die Urfrage jeder kollektiven Sicherung: Sind die Leistungsempfänger:innen selbst schuld an ihrer Situation oder sind sie es nicht?, wird die Verantwortung den Betroffenen selbst zugeschoben.
Doch eine solche Zuschreibung kann nach hinten losgehen – dann nämlich, wenn die Zahl der Arbeitslosen steigt und auch in den Mittelschichtmilieus das Risiko zunimmt, Job und Auskommen zu verlieren. Diese Ambivalenz hatte die SPD unterschätzt, als vor mehr als 20 Jahren unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Hartz-IV-Gesetze eingeführt wurden.
Mit der damaligen Abschaffung der sogenannten Arbeitslosenhilfe, die die Lohnersatzleistung noch an das frühere Gehalt geknüpft hatte, wurden Arbeitnehmer:innen, die wegen Firmenschließungen nach jahrzehntelanger Beschäftigung ihren Job verloren, faktisch Sozialhilfeempfänger:innen gleichgestellt, die noch nie gearbeitet hatten.
Der Kardinalfehler der SPD
Diesen realen oder drohenden „Abstieg“ durch die Hartz-IV-Gesetze hatten viele Arbeitnehmer:innen der SPD nie verziehen. Schließlich herrschte damals durch den Stellenabbau in der Industrie die Meinung vor, dass die Entlassenen eben nicht selbst schuld seien an ihrem Schicksal. Niemand erwartete damals von gefeuerten Metallfacharbeiter:innen, dass sie irgendwo einen Hilfsjob in einem Versandlager annehmen sollten.
Auch später dann, zu Coronazeiten, galten Arbeitslose nicht als „schuldig“, weil damals wegen des Infektionsschutzes viele Menschen in der Gastronomie oder im Kulturbereich Job und Auskommen verloren.
Die SPD wollte ihren Kardinalfehler wiedergutmachen, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) führte daher 2023 das „Bürgergeld“ ein. Doch mit der von den Grünen angestoßenen Debatte um Sanktionsfreiheit, mit den Steigerungen im Bürgergeld-Regelsatz in den Jahren 2023 und 2024, die auf die überraschend hohe Inflation aufgrund des Ukrainekriegs und eine neue Berechnungsmethode zurückzuführen waren, mit der Ankunft von hunderttausenden kriegsgeflüchteten Ukrainer:innen, die hier Bürgergeld bekamen – mit all diesen Entwicklungen kippte die Stimmung.
Die Algorithmen belohnen Empörung
„Bürgergeld“-Empfänger:innen wurden und werden in vielen Debatten wieder als arbeitsunwillige Schmarotzer stigmatisiert. Fälle von Missbrauch werden hochgejazzt. Die Algorithmen in den sozialen Medien, die Empörung und Wut belohnen, verstärken dies.
Die schwarz-rote Koalition wird das Bürgergeld wieder umbenennen, der Druck, irgendeinen, auch einen fachfremden Job anzunehmen, steigt in den Jobcentern. Derzeit tüfteln Mitarbeiter des Arbeitsministeriums an einem neuen Gesetzentwurf, laut dem Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine erst mal kein Bürgergeld, sondern nur die deutlich geringeren Asylbewerberleistungen bekommen sollen.
Die Frage lautet: Wird das Pendel irgendwann wieder umschwingen? Wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt und sich auch Angehörige der Mittelschichtmilieus wegen Digitalisierung, Gesundheit, Behinderung, Alter oder Rentenreformen in der „Neuen Grundsicherung“, dem umbenannten Bürgergeld, wiederfinden? Während der Reichtum der ohnehin schon Reichen weiter steigt?
Kündigung, Krankheit, Scheidung
Eine Kündigung, eine chronische Krankheit, eine Firmenpleite, eine Scheidung oder eine Pflegedürftigkeit können Leute in die Grundsicherung stürzen lassen, die das nie gedacht hätten. Wer sind dann die „unschuldigen“, wer die „schuldigen“ Leistungsempfänger:innen?
Die Frage ist vielleicht gerade nicht so aktuell. Das wird sie aber wieder.
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