Buchautor über sexuelle Gebärden: „Mein Vorbild ist Beate Uhse“
Wolfgang Schinmeyer hat ein Gebärden-Wörterbuch über die Reeperbahn herausgegeben. Mit Zeichen für „Kondom“ oder „Prostituierte“ will er Sexualität normalisieren.
taz: Herr Schinmeyer, ist es für Gehörlose schwierig, Sex zu kaufen?
Wolfgang Schinmeyer: Damit habe ich selbst keine Erfahrung, aber ich glaube nicht. Es ist ja möglich, Augenkontakt herzustellen und die Gebärde für „was kostet es?“ verstehen auch Hörende. (Er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander.) Schwieriger wird es bei den Preisverhandlungen.
Gibt es auf der Reeperbahn Prostituierte, die Gebärden beherrschen?
Der Mythos, dass es vor 20 oder 30 Jahren mal eine Prostituierte gab, die das konnte, hält sich hartnäckig. Ich habe sie aber nie kennengelernt. Abgesehen von der reinen deutschen Gebärdensprache können aber sicherlich die meisten Prostituierten ihre Hände und Mimik benutzen, um sich verständlich zu machen.
Unterscheiden sich Gebärden für Worte wie Ficken, Wichsen oder Blasen von obszönen Gesten, die Hörende benutzen?
Nein, nicht wesentlich. Bei der Gebärde für Porno und einen Blasen bildet man mit den Fingern und dem Daumen einen Kreis und führt den zum Mund. Bei der Gebärde für Ficken kann man einen Finger in einen Kreis aus Fingern der anderen Hand einführen. Ich denke, das versteht jeder.
Warum haben Sie dann ein spezielles Gebärdenbuch über St. Pauli gemacht?
Es ging mir darum, sexuelle Gebärden und das gesellschaftliche Tabu, das damit einhergeht, öffentlich zu machen. In Hamburg bietet es sich an, dieses Thema mit dem „sündigen“ Stadtteil St. Pauli zu verbinden.
61, ist technischer Zeichner und Grafiker. Seit 2010 veröffentlicht er Broschüren unter dem Titel "Faszination Gebärden", unter anderem über Schimpfworte. Schinmeyer ist seit seinem zweiten Lebensjahr gehörlos.
Ist die Gebärdensprache denn so verklemmt?
Nein, verklemmt trifft es nicht. Aber genau wie bei Hörenden sprechen manche Menschen über Sexualität und andere nicht. Bisher wurden diese sexuellen Vokabeln aber nie in einem Buch gebündelt. Mein Vorbild dabei ist Beate Uhse. Sie hat Sexualität und Erotik in unserer Gesellschaft öffentlich gemacht.
Gab es Kritik von Gehörlosen an Ihrer Arbeit?
Nein, keine Kritik, aber Diskussionen. In Deutschland wird keine einheitliche Gebärdensprache gesprochen, sondern viele Dialekte. Da kann man gut darüber streiten, ob eine Gebärde die richtige ist oder eine andere noch richtiger. Aber auch wenn sich die Dialekte in Berlin oder dem Ruhrpott unterscheiden, verstehen wir uns.
Veröffentlichen Sie Ihre Broschüren für Hörende oder Gehörlose?
Eher für Hörende. Gehörlose kennen diese Gebärden ja. Meine Zielgruppe sind Studierende, die lernen, Gebärden zu dolmetschen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter oder Polizisten.
Trotzdem sind Ihre “Gebärden auf St. Pauli“ ein Abbild der netten Seiten der Reeperbahn. Sie zeigen Worte wie Kneipentour, Riesentitten oder Herbertstraße. Warum kommen Zwangsprostitution oder Menschenhandel nicht vor?
Das ist eine gute Frage. Man hätte die Gebärden sicherlich erweitern können, aber ich musste eine Auswahl treffen.
Wo haben Sie die vielen schlüpfrigen Gebärden gelernt?
Ich bin gehörlos aufgewachsen, bin auf eine Gehörlosenschule gegangen. Da spricht man mit Leuten und kriegt das mit.
Warum sind Sie gehörlos?
Als ich zwei Jahre alt war, bekam ich eine Hirnhautentzündung.
Hadern Sie manchmal damit?
Nein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es war, als ich noch hören konnte. Deshalb fehlt mir der Vergleich. Schlimmer ist es für Menschen, die zu einem späteren Zeitpunkt ihr Gehör verlieren. Das trifft besonders auf Berufsmusiker zu – Beethoven war so ein tragischer Fall.
Was verbindet Sie mit St. Pauli?
Als ich zehn Jahre alt war, bin ich mit meiner Tante im Auto an der Reeperbahn vorbeigefahren. Ich saß am Fenster und habe diese Wahnsinnsbilder von Frauen an den Wänden gesehen. Die waren vom Künstler Erwin Ross. Heute sind die Pin-up-Malereien fast alle verschwunden. Mich hat die Offenheit fasziniert, mit der diese Bilder auf dem Kiez gezeigt wurden. Mit 16 Jahren bin ich selbst zum ersten Mal über die Reeperbahn gegangen. Ich war baff und neugierig, hatte aber kein Geld. Den Kiez habe ich trotzdem als großen Männertraum wahrgenommen. Später habe ich dort viel fotografiert und auch Führungen für gehörlose Touristen aus Japan, Israel oder Schweden angeboten.
Wo treffen sich Gehörlose auf St. Pauli?
Früher im Mary-Lou’s – einer Kneipe am Hans-Albers-Platz. Das war ein Geheimtipp. Sehen und gesehen werden. Heute trifft man sich mal hier und mal dort.
Gibt es viele Gehörlose in Hamburg?
Ja. Hier und im Umland leben rund 2.000 Gehörlose. In ganz Deutschland sind es rund 80.000 Menschen.
Wie kommunizieren Sie mit Hörenden?
Ich habe immer Stift und Zettel dabei, weil es selten ist, dass jemand Gebärdensprache kann. Meistens muss man sich einen abkaspern: ganz starke Mimik, viel zeigen, denn das Lippenlesen allein bringt einem in Alltagssituationen mit Gesprächspartnern, die man nicht kennt, wenig. Meine nächste Broschüre möchte ich zum Thema Alltag herausbringen – mit einfachen Begriffen, wie Schlafen, Essen oder Trinken. Damit die Verständigung besser klappt.
Wem ist die Figur in Ihrem Buch nachempfunden, die die Gebärden macht? Sie sieht aus wie ein Klischee-Lude.
Mir. Ein Freund hat mich fotografiert und ich habe die Grafiken dann mit Photoshop verändert. Aber es ist gewollt, dass er ein bisschen wie ein Rocker oder Zuhälter aussieht.
Aus reiner Neugier: Stimmt es, dass die Gebärde für Guido Westerwelle die gleiche ist wie die für Akne?
Nein, sie bedeutet Pockennarbe. Interessant ist auch Angela Merkel. Klar, kann man die Hände zur Raute formen, aber die Gebärde für hängende Mundwinkel versteht gleich jeder.
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