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Buch zur Geschichte EuropasEine Jahrhundertstimmung

Der britische Historiker Ian Kershaw zeigt in seiner großen Geschichte Europas seit 1950: Dieser Kontinent ist noch immer auf Achterbahnfahrt.

Wo geht's lang, Europa? Foto: dpa

Angesichts der aufgeregten Reaktionen der CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer zu den europapolitischen Vorschlägen von Präsident Macron erregt eine soeben erschienene historische Monografie besonderes Interesse: Nach einer epochalen Biografie über Adolf Hitler, die, anders als Joachim Fests Lebensbeschreibung, das wesentliche Mitwirken der Deutschen am Holocaust ins Zentrum stellt sowie einer Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – sie erschien 2015 unter dem Titel „Höllensturz“ –, erzählt der britische Historiker nun auf mehr als 800 Seiten die Geschichte Europas: von Spanien bis zum Ural, vom Jahr 1950 bis zur unmittelbaren Gegenwart, zum ihn selbst umtreibenden drohenden „Brexit“.

Historische Ereignisse, so schon Karl Marx, ereignen sich zweimal: einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Allerdings: fünf Jahrzehnte sind kein Ereignis, sondern allenfalls eine Ereigniskette, daher nutzt der Historiker andere Metaphern: Nach 50 Jahren „Höllensturz“ jetzt also 50 Jahre „Achterbahn“? Achterbahnen – immerhin – bleiben beim schwindelerregenden Auf und Ab auf der Schiene. In die Tiefe stürzen sie nicht.

Im letzten Kapitel von „Höllensturz“ – Kershaw nannte es „Aufstieg aus der Asche“ – hieß es: „Inmitten der bleibenden physischen und moralischen Narben, die der schrecklichste Krieg aller Zeiten hinterlassen hatte, tat sich die Möglichkeit eines Europas auf, das stabiler und prosperierender sein würde, als es sich die Menschen je hätten vorstellen können in den Jahrzehnten, in denen der Kontinent seiner Selbstzerstörung nahekam.“

Diese Hoffnung scheint sich allen Erfolgen zum Trotz zwar nicht völlig erfüllt zu haben. Es ist ja auch viel Verschiedenes geschehen in 50 Jahren in diesem Europa von Portugal bis nach Sibirien. Kershaw analysiert die Prozesse der Bildung des Ostblocks ebenso präzise wie die Bindungen Westeuropas an den Nahen Osten und die Entkolonialisierung.

Das Buch

Ian Kershaw: „Achterbahn. Europa 1950 bis heute“. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. DVA, München 2019, 832 S., 38 Euro.

In Klammern sei angefügt, dass zumal in diesen Passagen ein schwerer Schnitzer irritiert: War es wirklich Kershaw oder nur ein mangelhaftes Lektorat, das den Suezkrieg auf das Jahr 1959 datierte? Die Sperrung des Kanals durch Nasser, die israelische Invasion auf dem Sinai und die westliche Intervention am Kanal fanden tatsächlich drei Jahre früher statt: 1956; demselben Jahr, in dem sich der ungarische Aufstand ereignete. Mit ihm begann, was Jahrzehnte später in der Auflösung der Sowjetunion und der auf sie folgenden unvollständigen Demokratisierung der Länder des Warschauer Pakts gipfeln sollte.

Veränderungen der westlichen Kultur

Sosehr Kershaw bei seiner panoramatischen Darstellung um Ausgewogenheit bemüht ist, so wenig kann er verbergen, dass im Zentrum seiner Aufmerksamkeit dann doch die Bundesrepublik Deutschland sowie ein Großbritannien stehen, das Europa und seinen Institutionen je schon zögerlich gegenüberstand. Niemals rein ereignisgeschichtlich, sondern stets sozialgeschichtlich argumentierend, unterstreicht Kershaw die zentrale Rolle des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ beim ökonomischen Aufstieg ­Europas.

Und verhehlt dabei nicht, dass die nationalsozialistische Planierung von Kapital und Arbeit mitsamt ihrer Zerschlagung der traditionellen Gewerkschaften eine wesentliche Voraussetzungen beim Aufbau des westdeutschen Sozialstaats und der sozialen Marktwirtschaft waren.

Ein Schwerpunkt seiner Analyse ist der Niedergang dieses für ganz Westeuropa vorbildlichen sozialstaatlichen Kompromisses im Zuge von Individualisierung und Akademisierung sowie der wachsenden Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt; Entwicklungen, die vor allem die sozialdemokratischen Parteien trafen und deren Niedergang beschleunigt. Die Individualisierung selbst aber resultiert aus internen Veränderungen der westlichen Kultur.

Kultur als Fenster zur Seele

Das fünfte Kapitel, „Kultur nach der Katastrophe“, erläutert dies anhand dessen, was bis heute als „1968“ gilt und sogar im sowjetisch beherrschten Teil Europas subkutan zu wirken begann. Tatsächlich gehört Kershaw zu jenen Historikern, die – wie Max Weber – kulturellen Phänomenen eine entscheidende Rolle bei der gesellschaftlichen Entwicklung zusprechen: „Die Kultur“, so beginnt ein zentrales Kapitel, „ist ein Fenster zur Seele einer Gesellschaft.“

Mit stetigem Blick auf Euro­pas Vergangenheit im „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm), mit prägnanten Vignetten zur Dichtung Paul Celans, der Philosophie Theodor W. Adornos, den Arbeiten Sartres und Orwells, den Sinfonien Schostakowitschs sowie der Architektur etwa Le Corbusiers zeigt Kershaw – ohne Kultur auf ein „Überbauphänomen“ zu reduzieren –, wie sehr der Blick auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs, auf Nationalsozialismus und Stalinismus alle Bereiche der jeweiligen nationalen Gesellschaften bis heute durchdringt. Diesen Bann können auch Digitalisierung und Globalisierung sowie die mit ihnen verbundene Migration von Nord nach Süd nicht brechen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Diese – von Land zu Land verschiedenen Rückblicke – führen dazu, dass sich Europa als authentische politische Einheit nicht institutionalisieren kann. Das lässt den Historiker zur Kassandra werden, treiben ihn düstere Ahnungen um: So werde die Intoleranz gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe und Kultur zunehmen und: „Auch das Potential für soziale Unruhen wird sich erhöhen, wenn eine weitere große Herausforderung der europäischen Gesellschaften nicht überwunden wird: die riesige und weiter wachsende Ungleichheit von Einkommen und Reichtum.“

Angesichts von kulturellem Individualismus und dem Zerfall solidarischer Organisationen ist eine Gefahr für die liberalen Werte europäischer Gesellschaften zu verzeichnen, indes: „Europa“ so schließt Kershaw seine Erzählung „hat für die Freiheit gekämpft und sie gewonnen. Es hat einen Wohlstand erlangt, um den ihn der größte Teil der Welt beneidet. Doch sein Streben nach Einigkeit und einem klaren Identitätsgefühl geht weiter.“ Weiter? Weiter bergab!

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5 Kommentare

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Zunächst: Für die Diagnose Achterbahnfahrt bedarf es keines Historikers. Weiterhin: 38 € sind für Armutsrentner, HartzIVler und Gleichgesinnte eine Zumutung. Ja, ich würde auf meine alten Tage mir noch gerne ein wenig Historie aneignen. Auch wenn ich davon nichts mitnehmen kann.

    Ian Kershaw (mir im Gegensatz zu Nick Kershaw nicht bekannt) scheint eine große Nummer zu sein. Zumindest wenn man die Liste seiner Zu-Jubler (oder Hyper?) anschaut. Für mich übrigens immer wieder ein guter Indikator bei der Frage: erwerbe ich diese Schwarte - oder nicht? Ausleihen ist für mich keine Perspektive, da ich in jedem Buch arbeite. Und das wird deutlich sichtbar.

    Zurück zu den Zu-Jublern: da ist mir ganz besonders der Herr Joffe aufgefallen. Joffe, dessen in meinen Augen herausragende Leistung es war, sich vom Alt-Kanzler ("Hol mir mal 'nen Bier") Schröder in seinem eigenen Geläuf Völkerrecht vorführen zu lassen.

    Auch die Rezension Micha Brumliks bringt mich nicht wirklich weiter. Lohnt sich der Kershaw? Und wenn ja: warum? Achterbahnfahrt habe ich schon jeden Tag. Ganz ohne fremdes Dazutun. Die eigenen Wehwehchen reichen dafür bereits aus.

    P e r s ö n l i c h e Eindrücke kluger Köpfe des Forums könnten mir weiterhelfen. Wer mag?

    • @76530 (Profil gelöscht):

      Könnte eine vernünftige Bücherei weiterhelfen?

    • @76530 (Profil gelöscht):

      gebraucht kaufen oder als Taschenbuch. Bei historischen Werken kommt es auf ein paar Jahre Verzoegerung nicht so an, wenn die Taschen zu leer sind.

      • @meerwind7:

        Es handelt sich aber nun mal nicht um ein historisches Werk, sondern um aktuelle historiographische Fachliteratur.



        Gerade bei einem britischen Autor und dem Thema Europa kommt es übrigens derzeit möglicherweise doch auf ein paar Jahre an. Schließlich hat sich seit 2015 einiges (und damit auch die - speziell britische - Perspektive) geändert. Oder würden sie ein Werk mit dem Titel "Die Geschichte Sachsens" von 1988 erstehen, um sich auf den aktuellen Stand zu bringen?

      • 7G
        76530 (Profil gelöscht)
        @meerwind7:

        Danke für den gut gemeinten Tipp aus der Abteilung Pragmatismus. Ich kaufe ausschließlich gebrauchte Bücher und behandle den Buchmarkt bereits wie eine Börse.

        Bei den Büchern spielen in der Tat "ein paar Jahre Verzögerung" keine Rolle. Alter und Gesundheitszustand des Lesers hingegen schon. ;-)