Buch von Steinmeier über Vorkämpfer: Brauchen wir Helden?
Steinmeier will Bewusstsein für Demokratiegeschichte wecken. Klingt gut. Aber Demokratie braucht Selbstreflexion statt gemütlicher Feiern.
Um 11 Uhr am Dienstagvormittag betritt ein schwarz gekleideter Bediensteter den großen Saal im Schloss Bellevue in Berlin und ruft mit durchdringender Stimme: „Meine Damen und Herren, der Herr Bundespräsident!“ Die Anwesenden springen auf, stehen, bis Frank-Walter Steinmeier sagt, man soll sich wieder setzen. Das geht schnell.
Kollektives Aufstehen ist eine Geste der Ehrerbietung gegenüber Autoritäten, sie ist verwandt mit militärischem Strammstehen. Man steht zwangsweise im Gericht auf, in Schulen seltener. Dass sich das Publikum vor dem Bundespräsidenten zu erheben hat, verweist auf die feudale DNA des Amtes. Demokratische Staatsoberhäupter sind die institutionellen Nachfahren von Monarchen.
Steinmeier hat Demokratie zum rahmenden Thema seiner Präsidentschaft gemacht. Heute lässt er ein von ihm herausgegebenes Buch „Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918“ präsentieren. Das Spektrum reicht von Robert Blum, dem in Wien 1848 hingerichteten Revolutionär, über Louise Aston, eine der ersten radikalen Frauenrechtlerinnen, bis zu eher braven Parlamentariern im Kaiserreich. Das Buch ist ein bunter Mix, stilistisch mal professoral, mal feuilletonistisch. All diese Figuren sind, sagt Steinmeier, „viel zu lange vergessen worden“.
Diese Lücke im demokratischen Traditionsbewusstsein soll geschlossen werden. Deshalb heißt der Nebenraum im Bellevue neuerdings nach Robert Blum, deshalb wird die Paulskirche restauriert. In Frankreich und den USA haben revolutionäre Heldenfiguren im nationalen Gedächtnis ihren Platz (allerdings berufen sich auch die Rechtspopulisten auf sie). In Deutschland herrscht mangels erfolgreicher demokratischer Revolutionen eine gewisse Leerstelle.
Skepsis gegenüber Helden
Der Große Saal ist wegen Corona nur spärlich besetzt, der Empfang danach abgesagt. „Wir haben die Helden abgeschafft“, sagt Wolfgang Schäuble, als Laudator geladen und seit 49 Jahren Parlamentarier. Die Bundesrepublik sei als Reaktion auf den tödlichen Heroismus des Nationalsozialismus skeptisch gegenüber Helden geworden. Dies sei ein verständlicher, aber angesichts der Gefahren für die Demokratie kurzatmiger Reflex. Es gelte nun, „den Staat und die soziale Marktwirtschaft krisenfest zu machen“. Dafür müsse die Republik ihre postheroische Phase überwinden.
„Wegbereiter der deutschen Demokratie: 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918“, Hg. Frank-Walter Steinmeier, C.H. Beck Verlag, 448 Seiten, 28 Euro
Schäuble, einer der wenigen konservativen Intellektuellen in der Politik, will den Helden nicht wieder auf seinen Sockel setzen. Das wäre reaktionär. Für Orientierung soll eine Art demokratisch gefiltertes Modell sorgen: „die positive Identifikationsfigur“ (Schäuble). Diese pädagogisch heruntergedimmte Figur ist dem Helden mindestens so nah wie der Präsident dem Monarchen.
Es ist einleuchtend, die in Vergessenheit Geratenen und die nie Erinnerten, die Erfolgreichen und die ins Exil Getriebenen des 19. Jahrhunderts ins Bewusstsein zu rücken. Man findet dort Erstaunliches. Louise Aston dichtete 1846 nicht nur „Freiem Leben, freiem Lieben / Bin ich immer treu geblieben!“, sie lebte auch so. Es ist schade, dass die Popkultur bislang kein Interesse an ihr gefunden hat. Heute könnten wir uns Aston (die Barbara Sichtermann in dem Buch elegant würdigt) als radikalfeministische Bloggerin vorstellen, die eher nicht beim Bundespräsidenten eingeladen würde. Wenn, dann würde sie vielleicht sitzen bleiben.
Karl Marx und Rosa Luxemburg fehlen
Welchen Nutzen, welchen Nachteil hat die Demokratiegeschichte für unser Leben? Folgen wir Steinmeier, so ist sie eine Sinnressource. Die Demokratie steht unter Druck. Innen wächst der Rechtspopulismus, außen die autoritäre Gefahr. So sehen es Schäuble und Steinmeier. Und so ist es ja auch.
Angesichts dieser Bedrohungen soll Demokratiegeschichte der Kitt sein, der dafür sorgt, dass die Fenster nicht aus dem Rahmen fliegen. „Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte – warum sollte das für uns Deutsche nicht gelten?“, so Steinmeier. Diese Demokratiegeschichte von oben soll eine Art defensive Absicherung eines mannigfach gefährdeten Status quo sein. Steinmeier bezeichnet Karl Marx und Rosa Luxemburg im Vorwort als „antiliberale Denker“ – und damit als unbrauchbar für die demokratische Ahnengalerie. Das wirkt engherzig: Geschichte, verkürzt auf politisch nützliche Traditionslinien.
Die Debatte im Bellevue kommt nur mühsam in Schwung. Die prägnante, kritische Nachfrage ist dem Moderator Sven Felix Kellerhof heute nicht gegeben. So ist man sich auf eine gemütliche Weise einig. Müsste Demokratiegeschichte aber nicht mehr als Selbstvergewisserung sein? Müsste sie nicht etwas Widerspenstiges haben? Sichtbar machen, was auf der Strecke blieb? Das blitzt hier nur zufällig auf, und als Negation. Schäuble hält den Versuch, 1990 eine neue Verfassung auszuhandeln, anstatt das Grundgesetz zu übernehmen, für zu Recht gescheitert.
Schurz vor dem Schloss
Nur der Historiker Dietmar Süß fragt, wo die Sprengkraft radikaldemokratischer Ideen bleibt. So unerhört früher die Forderung klang, dass Frauen wählen dürfen, so unerhört sei es heute, mehr Mitbestimmung in Betrieben zu fordern, sagt er. Es gehe „um die Demokratisierung der Demokratie“. Schäuble schaut skeptisch. Bei zu viel Demokratie sind Konservative immer sehr zurückhaltend. Jetzt könnte die Debatte beginnen. In dem Moment ist sie zu Ende.
Carl Schurz war 1848 deutscher Revolutionär, er emigrierte in die USA, wurde Generalmajor im US-Bürgerkrieg, später Minister in Washington. Ein Leben wie ein Film. In seinem Geburtsort im Rheinischen gibt es eine fast hundert Jahre alte Büste aus Metall von ihm: der Blick ernst, der Bart beeindruckend.
Steinmeier kündigt am Ende an, dass bald eine Kopie der Büste samt Granitsockel vor Schloss Bellevue stehen wird. Ein Symbol: Die Republik 2021 schätzt ihre Wegbereiter. Diese präsidiale Geste ist gut gemeint, aber irritierend. Beschädigt Demokratiegeschichte sich nicht selbst, wenn sie eine Herrschaftsästhetik kopiert, die Männer in Büsten verewigt?
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