Buch von "Ehrenmord" Überlebender: Sie weiß, wie man stirbt
Aylin Korkmaz, 37, wurde Opfer eines der spektakulärsten "Ehrenmord"-Fälle in Deutschland - weil sie die Attacke überlebte. Der Täter könnte bald wieder auf freiem Fuß sein.
Aylin Korkmaz musste 16-mal operiert werden, bevor sie Sätze sagen konnte wie diese: "Ich weine noch immer viel und kann meinem Peiniger seine Grausamkeit nicht verzeihen. Aber hassen? Nein, das tue ich nicht. Warum unnötige Kraft darauf verwenden?" Zuvor hatte sie fast ihr Leben verloren und für immer ihr Gesicht. Sie hat eine Narbe, die vom Hals über die Schläfe bis hin zum Mund reicht. Ihre dunklen, vollen Haare verdecken heute die Stelle, an der ihr das rechte Ohr abgeschnitten wurde. Ihr Gesicht ist von zahlreichen Wundmalen übersät. "Als wäre eine Nähmaschine über mich gefahren", beschreibt die 37-Jährige ihr Aussehen. Angetan hat Aylin Korkmaz dies ihr Exmann Mehmet, der die Trennung von ihr nicht verkraftete. Also tat er das, was er für richtig hielt. Mehmets Mordversuch war das Ende einer "arrangierten Ehe" zwischen der Türkin und dem Kurden.
Ein Verwandter stellt 1991 der damals 18-Jährigen Mehmet vor. Wenige Tage später wird die im türkischen Adana geborene und aufgewachsene Frau von ihrer Familie gezwungen, den Unbekannten zu heiraten. Erst Stunden vor der Eheschließung erfährt sie seinen Namen. Es ist der Tag, an dem beginnt, was keiner mehr aufhalten wird. Der erste Tag jener Tragödie, die sich über 13 Jahre hinweg immer weiter zuspitzt. Warum sie ausgerechnet Mehmet heiraten musste? "Er lebte im reichen Deutschland und war damit eine Partie, die Wohlstand versprach", sagt Aylin Korkmaz und erzählt weiter: "Mit der Heirat wurde ich sein Eigentum, so wie sein Auto oder sein Telefon - und ich hatte genauso zu funktionieren."
"Ich bin nicht die Erste, und ich werde nicht die Letzte sein, die so etwas erlebt", sagt Aylin Korkmaz. Deswegen spricht sie heute auf Podiumsdiskussionen, mit Journalisten und hat jetzt ein Buch über ihr Schicksal geschrieben. Darin spricht sie schlicht und direkt über ihre Kindheit in der Türkei, ihre Träume von einem Jurastudium und deren abruptes Ende durch ihre Verheiratung. Über viele Kapitel schildert sie die Vorboten der Tat, die immer weiter eskalierende Gewalt in der Ehe und erklärt, warum sie sich erst nach langer Zeit von ihrem Mann trennte. Sie erzählt von ihrem Leid, aber auch von ihrem Willen - denn als Opfer will sie nicht dastehen, auch wenn sie das alles noch nicht überwunden hat. Wie auch?
Aylin Korkmaz: "Ich schrie um mein Leben. Ehrenmord mitten in Deutschland". Fackelträger Verlag 2010, 256 Seiten, 19,95 €
Als sie in Berlin an einer Podiumsdiskussion zu dem Thema "Ehrenmord" teilnimmt, fließen schon bei der Anmoderation ihre ersten Tränen, sie lächelt scheu und sieht aus, als wäre sie lieber woanders. Aylin Korkmaz wippt mit den Füßen, ist übernervös. Ab und zu wirft sie prüfende Blicke ins Publikum und sucht den Blickkontakt zu Bekannten, die ihr zunicken. Obwohl sie das Attentat noch nicht verwunden hat, sucht sie die Öffentlichkeit, weil sie den Frauen, die Ähnliches erlebt haben, eine Stimme geben will. "Wenn nicht ich darüber Rede, wer dann?"
Sie hat einen Blog eingerichtet, in dem sich Betroffene an sie wenden können, wenn sie Rat brauchen. "Denn vor allem wir Musliminnen schweigen, weil der Begriff der "Schande" bei uns so stark verankert ist, dass wir Unrecht aus Scham nicht erwähnen. Wir wollen auch das Ansehen der Familie nicht beschädigen." Denn in patriarchalisch-muslimischen Familien steht die Ehre über allem, sie ist wichtiger als das Leid der Opfer. Was in einer solchen Familie passiert, ist tabu. Und wehe, einer rührt daran.
Auch Aylin Korkmaz wollte keine Unruhestifterin sein. So folgt sie Mehmet 1991 nach Baden-Baden. Dort angekommen, stellt sie fest, dass er verschuldet und arbeitslos ist, bereits eine Tochter aus einer ersten Ehe mit einer Deutschen und keine Wohnung hat. Dinge, die er ihr vorher nicht gesagt hatte. So muss sie die ersten vier Wochen in einem geliehenen Auto leben.
Schon bald beginnt der Ehemann, sie zu schlagen, zu treten, zu verletzen - immer wieder, auch während der Schwangerschaft. Dann sagt er diesen Satz, den er in den nächsten Jahren ständig wiederholen wird: "Mein Liebling, es wird nie wieder passieren." Sie bleibt. "Wohin hätte ich auch gehen können?", antwortet sie auf die Frage nach dem Warum. "Nach Adana konnte ich nicht mehr, ich hätte damit nur Schande über meine Familie gebracht."
Aylin Korkmaz hat Abitur, sie lernt Deutsch, nimmt eine Arbeit als Kassiererin an. Dagegen bleibt Mehmet Deutschland fremd - er hat lediglich die Grundschule besucht, kann schlecht lesen und schreiben, und obwohl er seit 1978 hier lebt, spricht er kaum Deutsch. Mehmet taumelt durch sein Leben, hat wechselnde Jobs. Seine Biografie ist die Geschichte einer verweigerten Integration und eines Menschen, der glaubt, familiäre Konflikte nur mit Gewalt lösen können. Selbst nach der Geburt von drei Kindern ändert sich sein Verhalten nicht. Als Aylin Korkmaz einmal etwas kocht, was er nicht mag, droht er ihr mit einer Axt.
Jahrelang hält sie das aus, bis er sie 2003 in einem Restaurant vor anderen Leuten verprügelt. Danach erst reicht sie die Scheidung ein. Doch trotz Scheidung leben die beiden immer noch zusammen. Aylin Korkmaz sagt, sie sei auf Druck seiner Familie und wegen finanzieller Schwierigkeiten bei ihm geblieben, auch der Kinder wegen. "Niemals sollten sie ohne Vater aufwachsen. Das hatte ich mir geschworen." Die Kinder sind alles für sie, das sind ihre Kinder, sagt sie. Erst als die Situation erneut eskaliert, trennt sie sich im Juni 2007 endgültig von Mehmet. Ihr Exmann kann es nicht ertragen, dass sie frei sein will - deshalb soll sie sterben.
An dem Tag, an dem sich ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilt, macht sie gerade eine Pause in der Tankstelle, in der sie arbeitet, als Mehmet den Raum betritt. Er schließt ab und sticht mit zwei Messern 26-mal zu - davon 18-mal ins Gesicht. Auch trotz einer Pfeffersprayattacke eines Tankstellenmitarbeiters lässt er nicht von seiner Exfrau ab. Aylin Korkmaz verliert am Tatort zwei Liter Blut. "Ich erinnere mich nur noch an seine Augen. An den Todeskampf kann ich mich nicht mehr erinnern", blickt sie zurück. Mit mehr als 250 Stichen retten die Ärzte ihr Leben. Die Aufzählung der Folgen ist schwer zu ertragen: Ihr ganzer Körper ist von tiefen Schnittwunden übersät, ein Ohr ist zerfetzt, Ober- und Unterkiefer sind ausgerenkt, die Nase durchtrennt, Aylin Korkmaz wird die Milz entfernt. Aber sie überlebt - und ist bis heute schwer entstellt. Mehmet lässt sich am Tatort widerstandlos festnehmen. Zeugen sagen später aus, er habe gesagt: "Jetzt geht es mir gut, jetzt kann ich das erste Mal wieder schlafen. Ich habe fünf Monate nicht geschlafen." Als die Beamten ihm mitteilen, dass seine Exfrau noch lebt, habe er "Nein!" gebrüllt.
Als sich Aylin Korkmaz das erste Mal nach der Tat im Spiegel sieht, bekommt sie einen Schock. Auf das, was sie da erblickt, hat sie niemand vorbereitet: "Eine Fratzengesicht sah mir entgegen, ein gesichtsloses Schlachtfeld. Ich wandte mich angewidert ab."
Mehmet legt kein Geständnis ab, bestreitet die Tat aber auch nicht. An den genauen Ablauf des Geschehens kann er sich angeblich nicht erinnern. Vom Landgericht Baden-Baden wird er im August 2008 wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. In der Begründung des Gerichts für die Entscheidung gegen eine lebenslange Haftstrafe heißt es: Im Hinblick auf die Vorgehensweise des Angeklagten und des entstandenen Verletzungsbildes seien deutlich schlimmere Folgen denkbar gewesen, etwa der Verlust der Bewegungsfreiheit. "Die Tatsache, dass sie aber mit ihren Kindern weiterleben kann, der Erfolg der Tat ausgeblieben ist, hat die Kammer letztlich dazu bewogen, von der Minderungsmöglichkeit Gebrauch zu machen." Außerdem habe man "die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen des Angeklagten, der zwar schon seit 1978 in Deutschland lebte, seinen kurdisch-türkischen Wurzeln aber noch stark verhaftet war, mit in die Gesamtwürdigung einbezogen". Für Aylin Korkmaz ist dieses Urteil eine Unmöglichkeit, ein Affront. Mildernde Umstände, weil Mehmet sie nicht ermordet hat und aus einem fernen Land stammt - und das im Namen des Volkes! Das Urteil liest sich, als würde das Gericht die manchmal altertümlichen Vorstellungen anderer Kulturkreise akzeptieren.
Aylin Korkmaz braucht täglich eine Stunde, um die Narben ein wenig wegzuschminken. Sie wird nie wieder wie früher aussehen, immer Schmerzen haben. Die Menschen schauen ihr immer fragend ins Gesicht. Ihre drei Kinder sind jeden Tag damit konfrontiert, dass der Vater die Mutter umbringen wollte.
Wahrscheinlich muss Mehmet, der türkischer Staatsbürger ist, nur einen Teil seiner Strafe absitzen. Die Staatsanwaltschaft hat festgestellt, dass man ihn 2014 entlassen könnte, unter der Auflage, dass er sofort in die Türkei abgeschoben wird, wo er vermutlich als freier Mann leben kann. "Mit diesen milden Gesetzen werden die Täter motiviert", kritisiert Aylin Korkmaz und fürchtet, dass er mit gefälschten Papieren nach Deutschland einreisen könnte, um seine Tat zu vollenden. Es gibt genügend Gründe, um an Mehmets Einsicht zu Zweifeln. Er habe sich bis heute nicht bei ihr entschuldigt, sagt Aylin Korkmaz. Mehmets Bruder, Ahmet, wundert sich gegenüber einem Fernsehteam über das Urteil, schließlich habe Aylin Korkmaz den Mord provoziert: "Er hat 17 Jahre in diesem Land Steuern bezahlt, die 13 Jahre sind ungerecht, wo leben wir denn?", kritisiert er. Ihre Verletzungen seien auch nicht so schlimm, "sie hat doch nur ein paar Kratzer im Gesicht", findet Ahmet Korkmaz.
Aber Angst will Aylin nicht zulassen: "Ich weiß, wie man stirbt, ich habe keine Angst mehr", sagt sie mit brüchiger Stimme. Ihr Nachname "Korkmaz" bedeutet auf Deutsch "Keine Angst".
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