Buch über jüdische Greiferin neuaufgelegt: Überleben in Berlin
Stella Goldschlag meldete der Gestapo Verstecke anderer jüdischer Menschen. Peter Wyden lernte sie in der Schule kennen und beschreibt sie.
Die unvorstellbar hohen Opferzahlen des Holocausts stellen eine Auseinandersetzung mit diesem Thema vor ein grundlegendes Problem: Möchte man den Prozess der Entmenschlichung, der Menschen zu Zahlen reduzierte und ihre organisierte Ermordung wie einen gewöhnlichen Verwaltungsakt behandelte, durchbrechen, so muss man die Einzelschicksale hinter den abstrakten Zahlen betrachten.
Statistiken mit individuellen Erlebnissen zu konkretisieren, die Opfer in den Fokus zu rücken, war und ist daher eine Kernforderung von Überlebenden wie dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel oder dem Historiker Saul Friedländer. Eine rein mikrohistorische Perspektive auf den Holocaust kann jedoch im Gegenzug den schieren Umfang des Völkermords aus dem Blick drängen und so ein Verständnis für den politischen und administrativen Prozess der Entmenschlichung erschweren.
Eine Auseinandersetzung mit der Situation der in Berlin untergetauchten Juden, sogenannten U-Booten, die die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge mit konkreten Einzelschicksalen erfolgreich verbindet, ist dem US-amerikanischen Journalisten Peter Wyden in seinem Buch „Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte“ gelungen. Diese mit vielfältigen autobiografischen Bezügen verknüpfte Spurensuche des Autors nach seiner Jugendbekanntschaft Stella Goldschlag war bereits in den frühen 90er Jahren ein Verkaufserfolg und erschien 1993 in Übersetzung von Ilse Strasmann im Steidl Verlag.
In den letzten Jahren hat es eine Vielfalt von Büchern zum Thema der jüdischen U-Boote im Berlin der Kriegsjahre gegeben, zum Beispiel die von Cioma Schönhaus verfasste Autobiografie „Der Passfälscher“, Marie Jalowicz Simons Erinnerungen mit dem Titel „Untergetaucht“ oder die Bücher von Margot Friedlander und Eugen Herman-Friede. Auch filmisch wurde das Thema behandelt. So widmet sich unter anderem das Doku-Drama „Die Unsichtbaren“ von 2017 den „U-Booten“. Das Interesse an der spannungsreichen Doppelebene von Tätern und Opfern, die unter völlig gegensätzlichen Vorzeichen in der kriegsgeplagten Stadt koexistieren, mischt sich mit einer Faszination für das vibrierende jüdische Leben der Stadt, das so brutal beendet wurde und dessen letzte Repräsentanten die „U-Boote“ sind. Dieses beinahe nostalgische Interesse für die letzten Spuren von Vorkriegsglamour in einer auf den Untergang zusteuernden Stadt zeichnet auch Takis Würgers Roman „Stella“ aus, der sich an die Biografie der historischen Person Stella Goldschlag anlehnt.
Repressive Realität des Alltags
Man wird keine Rezension der Neuauflage des Buchs von Peter Wyden schreiben können, ohne Würgers Roman zu erwähnen, denn Wydens Buch wurde 16 Jahre nach der Erstausgabe der deutschen Übersetzung neu aufgelegt, weil der Feuilletonskandal um den im Hanser Verlag erschienenen Roman „Stella“ bei vielen Lesern das Bedürfnis geweckt hat, mehr über das Leben Stella Goldschlags zu erfahren.
Im Gegenzug zu der fiktionalen Bearbeitung der historischen Figur Stella Goldschlag durch Takis Würger, deren Geschichte von ihm grob verändert und umfunktioniert wurde, nähert sich Peter Wyden der historischen Stella in den fünf Abschnitten seines Buches mit persönlichem Bezug. Er selbst wurde als Peter Weidenreich 1923 in Berlin geboren und schaffte es 1937 gemeinsam mit seinen Eltern, in die USA zu flüchten. Stella hatte er zuvor an der jüdischen Goldschmidt-Schule kennengelernt, die als Privatschule aufgrund der Schikane jüdischer Schüler in den staatlichen Schulen von der Pädagogin Leonore Goldschmidt 1935 gegründet wurde.
Während sich der Druck auf die jüdische Bevölkerung permanent verschärfte, konnten die Jugendlichen hier für eine Zeit der repressiven Realität ihres Alltags entfliehen. Peter Weidenreich und Stella Goldschlag sangen gemeinsam im Chor, und das schöne blonde Mädchen wurde zur Projektionsfläche für die adoleszenten Fantasien des jungen Peter.
Im Gegenzug zu Peters Mutter Helen erlagen die Eltern von Stella dem fatalen Missverständnis zahlreicher assimilierter Juden, die den radikalen Antisemitismus der Nazis zunächst unterschätzten und deswegen zu spät die notwendigen Schritte zur Emigration einleiteten. Peter Wyden zeigt an zahlreichen Einzelschicksalen, die er immer wieder in einen übergeordneten politischen Kontext einordnet, warum manchen privilegierten Juden die Flucht aus Deutschland gelang, während andere in der Lotterie um Visa und Ausreiseerlaubnisse kein Glück hatten. Wyden illustriert, wie die Verfolgung und der ständig zunehmende Terror niemanden unverändert lassen, und schildert zudem die perfide Strategie Adolf Eichmanns, die Juden zu den Verwaltern ihrer eigenen Vernichtung zu machen.
Wie hätte man sich verhalten?
Er berichtet detailliert von dem Leben der Berliner Juden, die zunächst verzweifelt auf die Emigration gewartet hatten und, nachdem diese Möglichkeit verschlossen war, versuchten, in der Stadt so gut es ging zu überleben. Schwere Arbeit in Rüstungsfabriken und kriegswichtiger Industrie schützten zumindest für eine Zeit vor der Deportation in die im Osten Europas entstehenden Vernichtungslager. Stella Goldschlag arbeitete in einer solchen Fabrik, sang in einer Jazz-Band, heiratete einen jüdischen Musiker und hörte nicht auf, von einer Zukunft in den USA zu träumen. Als im Februar 1943 schließlich die letzten jüdischen Arbeiter der Rüstungsindustrie abgeholt wurden, rettete sich Stella Goldschlag gemeinsam mit ihren Eltern in den Untergrund. Ihr erster Ehemann wurde deportiert und ermordet.
Bereits im Sommer 1943, nach nur wenigen Monaten im Untergrund, wurde Stella von einer Freundin verraten, die mit der Gestapo zusammenarbeitete. „Greifer“ nannten die Juden im Untergrund solche Kollaborateure. Diese bekamen für ihre Tätigkeit nicht nur Essen und Bezahlung, sondern konnten sich mit offiziellen Papieren ohne Judenstern in der Stadt bewegen und jagten dort die untergetauchten „U-Boote“. Nach ihrer Festnahme wurde Stella tagelang von der Gestapo gefoltert, schaffte es jedoch zu fliehen, nur um kurz darauf gemeinsam mit ihren Eltern wieder festgenommen zu werden. Unter Androhung der Deportation der geliebten Eltern und schwer traumatisiert von Folter und Gefangenschaft, begann Stella Goldschlag als Greiferin tätig zu werden. Mit ihrem männlichen Partner Rolf Isaaksohn bildete Stella ein gefährliches und effizientes Team.
Peter Wyden: „Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte“. Aus dem Englischen von Ilse Strasmann. Steidl, Göttingen 2019, 384 Seiten, 20 Euro.
Selbst als ihre Eltern im Frühjahr 1944 doch deportiert wurden, war Stellas Überlebenswillen so groß, dass sie ihre Tätigkeit noch mehrere Monate fortsetzte. Peter Wyden verliert nie Stellas Zwangssituation und Notlage aus den Augen, in seiner Schilderung der „unbeschreiblichen Verbrechen, die Stella begangen hatte, um zu überleben“. Er bringt Empathie auf, ohne Stella Goldschlag, deren Handlungen mörderische Konsequenzen hatten, zu entschuldigen. Wieder und wieder stellt Wyden die Frage in den Raum, wie man sich selbst verhalten hätte. So bleibt der Fokus im gesamten Buch auch auf die Täter gerichtet, die Nazis und ihren Terror, die Stella Goldschlags Handlungen bedingten.
Lehrstück in sauberer Recherchearbeit
Einziger Wermutstropfen ist, dass man dem Buch in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit der patriarchalen und sexualisierten Gewalt, der Stella ausgesetzt war, das Alter anmerkt. So wird Stella in Teilen, auch von Peter Wyden, eine größere Handlungsmacht zugesprochen, als sie sicherlich haben konnte. Es mangelt zum Teil auch an Sensibilität für die sexistischen Dynamiken, welche die Bewertung Stella Goldschlags prägen. Eine Vielzahl an Erinnerungen und Schilderungen unterliegen klar der Dynamik eines Femme-fatale-Narrativs, thematisieren Stellas erotische Anziehungskraft und außerordentliche Schönheit, bezeichnen sie als gewissenlos und unmoralisch und kritisieren ihre angebliche sexuelle Verfügbarkeit.
Wyden hinterfragt nicht, wieso gerade Stella Goldschlags Ruf als blondes Gift und gewissenloses Monster derartig legendär wurde. Manchmal tappt er sogar selbst in die Falle dieser Erzählstruktur, wenn er etwa nach seinem Besuch bei Stella schreibt: „Sie war einsam, hatte Langeweile und Heimweh nach Berlin und den alten Zeiten, und ich muss ihr wie eine leichte männliche Beute erschienen sein.“
Abgesehen von dieser Kritik gelingt Peter Wyden in seinem detailliert und ausführlich recherchierten Buch jedoch eine Schilderung der Geschichte Stella Goldschlags, die sich der historischen Komplexität nicht verschließt. Die Gründlichkeit, Feinfühligkeit und der Respekt, mit der sich Wyden Stellas Geschichte nähert, bilden ein Lehrstück in sauberer Recherchearbeit. Jeder Abschnitt ist am Ende mit Verweisen auf die interviewten Gesprächspartner und zahlreiche andere Quellen belegt.
Wenn es eine ethische Verpflichtung gibt, an den verschiedenen Punkten der langen Verwertungskette des Literaturbetriebs zu prüfen, ob ein Buch seinem Gegenstand gerecht wird, dann sind Peter Wyden, seine Übersetzerin und die beteiligten Verlage dieser Pflicht offensichtlich nachgekommen.
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