Buch über deutsche Kolonialgeschichte: Noch längst nicht versöhnt
Brutale Exzesse: Politikwissenschaftler Henning Melber rechnet in seinem Buch schonungslos mit Deutschlands unbewältigter Kolonialgeschichte ab.
Das wiedervereinigte Deutschland und das unabhängige Namibia traten fast zeitgleich in die Weltgeschichte ein, aber 34 Jahre später haben sie sich immer noch nicht über den Umgang mit den deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika verständigt. Seltsame Parallelen durchziehen die Geschichte dieser beiden Länder seit der Besetzung durch deutsche Geschäftsleute und Siedler im ausgehenden 19. Jahrhundert und dem deutschen Völkermord an den Herero und Nama ab 1904, als diese sich wehrten.
Am 7. und 11. November 1989, rund um den Berliner Mauerfall, fanden im damals südafrikanisch besetzten Gebiet unter UN-Ägide die ersten freien Wahlen statt, als deren Ergebnis die schwarze Befreiungsbewegung Swapo das freie Namibia zur Unabhängigkeit am 21. März 1990 führte, drei Tage nach der ersten und einzigen freien Wahl der DDR, die die Wiedervereinigung einläutete.
Bekanntestes deutsches Mitglied der Swapo, und damals noch mit einem Einreiseverbot belegt, war der deutsch-namibische Politikwissenschaftler Henning Melber. Der wohl beste deutsche Namibia-Kenner, unermüdlicher Streiter für historische Gerechtigkeit und koloniale Aufarbeitung, hat nun nach mehreren Büchern über Namibia ein Buch über Deutschlands Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit insgesamt vorgelegt – bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern im britischen Verlag Hurst.
„Zufall als Programm“, sagt er dazu: Die Idee kam von den Briten; der Vorteil davon ist, dass ein afrikanisches und internationales Publikum diese schändliche deutsche Geschichte nachlesen kann – vom kolonialen Terror bis zur Kolonialapologetik in der AfD und zum Scheitern der „Gemeinsamen Erklärung“ der Regierungen Deutschlands und Namibias zum Umgang mit dem Genozid an den Herero und Nama.
Henning Melber: „The Long Shadow of German Colonialism: Amnesia, Denialism and Revisionism“. C. Hurst & Co, London 2024, 332 Seiten, 30 GBP.
Buchvorstellung am 26.11. in Berlin, Heinrich-Böll-Stiftung.
Vielen deutschen Lesern dürfte vieles vertraut sein, aber wohl niemandem alles, und außerhalb Deutschlands sowieso nicht. Das 50-seitige Kapitel „Germany and Namibia“ allein bietet den besten vorliegenden Überblick über den deutschen (Nicht-)Umgang mit seinem ersten Genozid, mit allen schmutzigen und beschämenden Details und juristischen Winkelzügen, mit denen die Bundesregierung sich bis heute aus der vollen Übernahme von Verantwortung herauswindet.
Mit der Materie vertraut
Melber weiß viel mehr, als er schreibt. Das gesamte Buch ist eigentlich nur 200 Seiten lang, dazu kommen gut 130 Seiten Endnoten, Bibliografie und Register mit Verweisen auf genug Quellen und weiterführende Literatur für ein halbes Leben und eine ganze Bibliothek. Zuweilen wird Vertrautheit mit den historischen Tatsachen allzu sehr vorausgesetzt, und die Abrisse der Geschichte der einzelnen Kolonien sind sehr kurz geraten.
Die Vertrautheit des Autors mit der Materie erlaubt aber originelle Einsichten, etwa die Rolle von Kartoffelschnaps als Treiber der Suche nach kolonialen Absatzmärkten und der bis heute gewahrte gute Ruf deutschen Bieres in Afrika. Die naheliegende Parallele zwischen Kolonialismus und Alkoholismus – man steigert sich erst in fürchterliche Exzesse und will sich hinterher an nichts mehr erinnern – wird nicht weiterverfolgt.
Melbers Thema ist der Umgang mit der kolonialen Prägung der deutschen Gesellschaft und politischen Kultur. Es geht nicht nur um das Verhältnis zu einstigen Kolonialgebieten, es geht um Afrikaromantik in der Literatur, um den Umgang mit Schwarzen, um unterschiedlich selektive Blicke in BRD und DDR, ganz grundsätzlich um das politische Selbstverständnis.
Asymmetrische Machtverhältnisse
„Die Verbindung zwischen Kolonialismus und Genozid bleibt ein integraler Bestandteil der europäischen Moderne und ihrer Hinterlassenschaft. Aber bis heute wird diese Verbindung in den vorherrschenden Kulturen der ehemaligen Kolonialmächte kaum anerkannt“, schreibt Melber und wünscht sich ein „kollektives Weltgedächtnis“ anstelle der kolonial geprägten Realität „asymmetrischer Machtverhältnisse“ mit ihrer „Hierarchie der Erinnerungen“.
Ein Schritt, zu dem Deutschland offenkundig nicht bereit ist. Wie einer der von ihm zitierten Namibier die Frage beantwortet, wie Versöhnung zwischen Deutschland und Namibia möglich wäre: „Was wären Sie bereit aufzugeben?“ Man wünscht diesem Buch eine breite Leserschaft. Auch in Deutschland.
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