Buch über demokratische Gesellschaft: Schutz gegen Freiheit
Sind wir verletzlicher geworden? Scheitern deshalb Debatten? Frauke Rostalski gleicht die Debattenkultur mit demokratischen Prozessen ab.
Seit ein paar Jahren ist eine bemerkenswerte Veränderung in der Debattenkultur zu beobachten. In immer mehr Beiträgen geht es nicht länger um ein klar umrissenes Thema, sei es zum Beispiel das Asylsystem, die Klimakrise oder die Gefahr von rechts, sondern um die Art und Weise, wie diese und andere Themen verhandelt werden.
Die Gesellschaft als Ganze, mindestens aber die Mechanik ihrer Diskurse stehen zur Disposition, gilt doch als ausgemacht, dass etwas im Argen liegt mit der politischen Öffentlichkeit.
Einzig über den Grund für diese Schieflage ist man sich uneins. Ist das Problem ein kommunikatives, worauf Jürgen Habermas hindeutete, als er in Hinblick auf Digitalisierung und soziale Medien seine Thesen über die Struktur der Öffentlichkeit aktualisierte?
Frauke Rostalski: „Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“. C. H. Beck, München 2024, 214 Seiten, 16 Euro
Tobt untergründig ein neuer Klassenkampf, wie ihn der Soziologe Andreas Reckwitz skizzierte, mit eher konservativ eingestellten Landbewohnern auf der einen und kosmopolitischen Akademikern auf der anderen Seite? Oder geht das Konfliktpotenzial vom Individuum aus, wie die Philosophin Svenja Flaßpöhler mit ihrem Buch „Sensibel“ nahelegte?
Gesteigerte Verletzlichkeit
Frauke Rostalski, Professorin für Rechtswissenschaft und Mitglied des Deutschen Ethikrats, zitiert sie alle drei in ihrem Buch „Die vulnerable Gesellschaft“, setzt aber einen neuen Fokus. Für sie ist eine gesteigerte Verletzlichkeit der Grund, aus dem die Verhandlung politischer Inhalte scheitert. Den Begriff fasst sie sehr weit.
Auch ein CDU-Vorsitzender fällt im Zweifel in die Gruppe der Vulnerablen, wenn er sich von einem Argument, einer Haltung oder auch nur einer Person getriggert fühlt. Entscheidend ist also der Grad des emotionalen Engagements in einer Debatte. Je höher er ausfällt, umso wahrscheinlicher sind Nachteile für den Diskurs, da dieser darauf angewiesen ist, dass die Argumente aller Beteiligter nüchtern gewürdigt werden.
Genau das Gegenteil geschieht in einer Auseinandersetzung mit den „Diskursvulnerablen“. Sie fühlen sich persönlich von ihren Kontrahenten angegriffen, lassen diese daher nicht zu Wort kommen, ignorieren ihre inhaltlichen Argumente und delegitimieren ihre Positionen.
Solche Konflikte werden unter dem Stichwort Cancel Culture längst landauf, landab diskutiert, und Rostalski trägt nicht wirklich viel Neues bei, wenn sie mit Habermas darauf hinweist, dass demokratische Prozesse auf eine funktionierende Debattenkultur in der Gesellschaft angewiesen sind, und dass diese durch das Canceln im Speziellen, im Generellen aber dadurch gestört wird, dass politische Argumente immer öfter als persönliche Attacken empfunden werden.
Schutz gegen Freiheit
Deutlich aufschlussreicher ist der umfangreichere Teil des Buchs, in dem sich Rostalski auf die juristischen Folgen verbreiteter Vulnerabilität konzentriert. Wichtig ist für ihre Argumentation, dass „vulnerabel“ kein Attribut ist, das lediglich Minderheiten und Marginalisierten zukommt.
Wie der Titel ihres Buchs schon sagt, attestiert sie der gesamten Gesellschaft Vulnerabilität, was bedeutet, dass ihre Mitglieder die eigene Verletzlichkeit betonen und gerne bereit sind, Schutz gegen Freiheit einzutauschen. Ihr zufolge reagiert der Staat zunehmend auf dieses Bedürfnis.
Das klingt wie eine Erfolgsgeschichte, aber so einfach ist es nicht. Denn wann immer Verwaltungen, Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden neue Schutzfunktionen übernehmen, verengen sich auch die Spielräume der Bürger, selbstständig und eigenverantwortlich zu agieren. „Was der einzelne Mensch an Freiheit aus seiner eigenen Sphäre wegschiebt, landet in aller Regel unmittelbar bei staatlichen Akteuren, die hierauf durch den Erlass neuer Gesetze und den Ausbau der eigenen Institutionen reagieren.“
Ein interessantes Beispiel, das Rostalski im Buch diskutiert, ist das im Koalitionsvertrag festgelegte Vorhaben der Ampelregierung, Schwangere auf dem Weg zur Beratungsstelle oder zur Praxis zu schützen, in der sie einen Abbruch vornehmen lassen wollen. Abtreibungsgegner sollen sich laut einem Gutachten der Heinrich-Böll-Stiftung künftig einer Ordnungswidrigkeit schuldig machen, wenn sie die Frauen unterwegs ansprechen. Für Rostalski würde damit auch die Freiheit der Schwangeren eingeschränkt.
Risiken vermeiden
Das leuchtet nicht intuitiv nicht ein, trifft aber formal zu. Denn schützt der Staat eine Frau vor dieser potenziellen Störung, so nimmt er ihr auch die Möglichkeit, auf die Begegnung zu reagieren, sei es etwa dadurch, dass sie den kritischen Impuls aufnimmt und auf ihren Entscheidungsprozess wirken lässt, oder aber ihren Beschluss gegenüber der fremden Person verteidigt und womöglich weiter festigt.
Rostalski betont darüber hinaus, dass es aus juristischer Perspektive nicht selbstverständlich ist, derartige Situationen so parteiisch zu bewerten, wie es das Gutachten der Böll-Stiftung vorsieht. „Der Fokus auf die Schwangere scheint dabei vergessen zu lassen, dass ihrer Rechtsposition berechtigte Interessen der anderen Beteiligten entgegenstehen – deren Meinungs- und häufig Religionsfreiheit, aber gerade auch das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, dessen Schutz die Ansprache der Mutter kurz vor Durchführung der Abtreibung dienlich sein kann. Hat die Schwangere ein Recht, hiervon verschont zu bleiben?“
Rostalski beantwortet diese Frage nicht eindeutig, sondern legt die rechtlichen Konflikte hinter dem Einzelfall offen. Auch bei den weiteren Beispielen mit emotional so aufgeladenen Themen wie Sterbehilfe, sexuelle Selbstbestimmung, Coronamaßnahmen und Waffenlieferungen hält sie sich über weite Strecken zurück mit persönlichen Einschätzungen.
Denn es geht ihr nicht darum, inhaltliche Positionen zu einzelnen Rechtsfragen zu vertreten. Sie will stattdessen eine dringend notwendige Debatte über die politischen Risiken anstoßen, die eine Gesellschaft eingeht, deren vornehmliches Ziel es ist, Risiken generell zu vermeiden.
Entpolitisierte Räume
Mit Nachdruck weist sie darauf hin, dass eine Ausweitung des Rechts direkt verbunden ist mit einem Verlust an Selbstverantwortung und persönlicher Gestaltungsmacht sowie von Möglichkeiten privater Konfliktlösung. Wo immer der Staat ordnend eingreift, nimmt er den Einzelnen aus der Verantwortung und entpolitisiert damit weitere Räume.
Rostalski mutet den Vulnerablen mehr zu, als diese selbst sich abzuverlangen bereit sind. Ihr Einspruch gewinnt an Dringlichkeit, weil der Einzelne und die Gesellschaft im Dauerzustand der Vulnerabilität essenzielle Fähigkeiten wie das Aushandeln, Diskutieren und Streiten verlernen. Womöglich trägt diese Missachtung demokratischer Tugenden bereits jetzt zu den vielfach beklagten Problemen in der politischen Öffentlichkeit bei.
Diese Diskursvulnerabilität könnte im schlechtesten Falle zu einer tieferen Verletzlichkeit nicht nur des Bürgers und der Bevölkerung, sondern auch der Demokratie führen, die dann womöglich nur noch Schutzbedürftige und keine Verteidiger mehr kennt. Frauke Rostalskis warnendes Buch erscheint insofern keinen Tag zu früh.
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