Buch über das Leben Vivian Maiers: Durch die Linse der Gouvernante

Die New Yorker Fotografin Vivian Maier ist eine große Unbekannte. Die Publizistin Ann Marks hat ihre seltsame Lebensgeschichte aufgeschrieben.

menschen warten an einer Straße

Zufälliger Blick: Fotografie von Vivian Maier Foto: © Steidl, 2023

Ihre Fotografien fehlten 2018 in der Hamburger Ausstellung „Street. Life. Photography“, dabei hatte sie schon Jahre zuvor weltweit Beachtung gefunden. Ihr Name war längst im gleichen Atemzug wie Lisette Model, Helen Levitt, Diane Arbus, André Kertész oder Walker Evans genannt worden. Die Rede ist von der 2009 im Alter von 83 Jahren verstorbenen US-Amerikanerin Vivian Maier. Zu ihren Lebzeiten wusste fast niemand, dass sie fotografierte.

Der New Yorker Genrefotograf Joel Meyerowitz beschrieb diese mysteriöse Künstlerin so: „Sie ist so betulich wie eine altbackene Gouvernante. Sie ist das Mauerblümchen, die ledige Tante, die biedere Großstadt-Touristin … nur … sie ist es eben nicht! Sie war ein professionelles Kindermädchen, was an sich schon eine großartige Mimikry ist – denn wie verdächtig oder gefährlich kann eine Frau schon sein, die zwei oder drei Kinder hütet?

Durch ihren Beruf war sie mit Fug und Recht draußen unterwegs und durfte alle Bilder machen, die sie interessierten. Man sieht an ihren Fotografien, dass sie ein untrügliches, schnell reagierendes Sensorium für menschliches Verhalten hatte, für sich auftuende Momente, das Aufblitzen einer Geste, Stimmungen auf einem Gesicht – flüchtige Augenblicke, die das alltägliche Leben auf der Straße für sie zur Offenbarung machten.“

Ann Marks: „Das Leben der Vivian Maier“. Steidl Verlag, Göttingen 2023, 368 S., 38 Euro

Kurz vor ihrem Tod entdeckt

Als viele ihrer Fotos zwei Jahre vor ihrem Tod und ohne ihr Wissen unter höchst unwahrscheinlichen Umständen entdeckt, dieser Bilderschatz nach und nach erarbeitet und erkannt wurde, erhielt die bis dahin unbekannte Fotografin durch Ausstellungen, Buchveröffentlichungen und Filme, insbesondere dem 2013 erstmals gezeigten Dokumentarfilm „Finding Vivian Maier“, eine immense Medienpräsenz.

Es war dieser Film, der eine Ann Marks, jahrelange Vertriebsleiterin großer Medienkonzerne und Hobbygenealogin, zu einer langjährigen Recherche über Vivian Maier anstiftete. Trotz großformatiger Fotobände, unzähliger Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Fachaufsätzen schien ihr das Leben des fotografierenden Kindermädchens noch nicht ausgeleuchtet zu sein.

Wie das Titelbild ihrer nun auf Deutsch vorgelegten Biografie, das ein Selbstporträt Vivian Maiers aus dem Jahr 1954 zeigt, eine wohlgekleidete Frau, ihre Rolleiflex in den Händen. Ein Foto, das mit Hell und Dunkel spielt und die Abgebildete in zwei Hälften teilt. Gründe für ihr stetes Bemühen, ihre Identität hinter schroffer Distanz zu verbergen und ihre Vergangenheit im Dunkeln zu lassen, findet Marks in Maiers Familiengeschichte.

Maier hatte eine labile, narzisstische Mutter, einen gewalttätigen, alkoholkranken Vater und einen schizophrenen Bruder. Die Tarnung gegenüber ihrer Familie wird verständlich.

Juristische Streitigkeiten

Trotz juristischer Streitigkeiten um Urheber- und Nutzungsrechte sowie des kursierenden Vorwurfs, sie würde Maiers Fotografie kommerzialisieren, kooperierte Marks für ihr Buch mit den „Entdeckern“ der Fotografin John Maloof und Jeffrey Goldstein. So erhielt sie die Gelegenheit, deren Bildbestand von 140.000 Fotos zu sichten. Viele von ihnen begleiten Marks Tagebuch des Lebens von Vivian Maier, das sie auch dank der Befragung von Personen aus Maiers Umfeld zu einer komplexen Geschichte zusammenfädelt.

Vivian Maier war „eine Überlebenskünstlerin, die die Kraft und Fähigkeit besaß, sich aus einer dysfunktionalen Familie zu befreien und ihr Los exponentiell zu verbessern“, resümiert die Autorin. Deren Buch ist von Sympathie für ihre Protagonistin geprägt, der es trotz aller Widrigkeiten gelang, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen.

Die Fotografie war für Maier mehr als ein Werkzeug, um sich auszudrücken. Durch die Fotografie gelang es Vivian Maier, schreibt Ann Marks schließlich, „ein Band zwischen sich und der Welt zu knüpfen. Und wenn sie es wünschte, schaltete sie sich in deren Lauf ein, um dort ihren Platz einzunehmen.“

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