Buch über Zeichen von Tieren: Auf Spurensuche
Was sind das für Spuren im Sand? Fährtenleser Joscha Grolms hat ein Buch veröffentlicht, mit dem Tiere anhand ihrer Spuren identifizierbar sind.
Spaziergänger auf sandigen Waldwegen fragen sich dann und wann, welches Tier diesen herzförmigen Hufabdruck im Boden hinterlassen hat. War es ein Hirsch? Oder ein Reh? Versierte Waldläuferinnen wissen gleich, dass der Rothirsch zu groß für diese zierlichen Klauen ist. Doch halt! Haben nicht Wildschweine auch Klauen, Hufe oder Schalen, wie die Jäger sagen? Und könnte nicht auch ein kleines Wildschwein auf spitzen Zehen über den Weg getrippelt sein?
Aber warum sollte ein Frischling allein auf dem Weg tapern, wenn er mit Geschwistern und Mutter zusammen unterwegs sein kann. Spurenlesen wirft Fragen über Fragen auf, die Naturfreundinnen noch lange nach ihrem Fund auf wilden Wegen beschäftigen. Antworten gibt Joscha Grolms in seinem Buch „Tierspuren Europas“. Im Juni 2021 im Ulmer Verlag erschienen, kann man schon jetzt sagen: Das Buch ist ein Klassiker unter den Naturbüchern.
Grolms setzt Maßstäbe in Darstellung und Interpretation von Zeichen europäischer Tierarten. Er analysiert Kotpillen und Würstchen, Liegeplätze, Bauten, gerissene Rehkadaver (Wolf oder Luchs?), untersucht Fraßspuren an Büschen, Bäumen, Gräsern. Von Pfoten, Klauen, Krallen zeigt Grolms ein Foto, wann immer er die Füße der Tiere finden konnte, sei es Waldspitzmaus, Kranich, Kröte, Elch oder Eichhörnchen.
Die Nutzer des Buches können sich daher vorstellen, wie dieser Fuß den Abdruck auf dem Boden hinterlassen hat, den Joscha Grolms auf Fotos und präzisen Zeichnungen abbildet. Die Zeichnungen von Rehklauen, Fuchspfoten, den Krallenabdrücken von Eidechsen, Mäusebussard und allen anderen Arten sind das Meisterstück in den „Tierspuren Europas“. Sie sind so genau, dass Nutzerinnen des Buches lernen, die Spuren von Haus- und Wanderratten zu unterscheiden, die Details in den Pfoten der drei ähnlich großen Marderartigen Hermelin, Iltis und Mink erkennen können oder die Vogelfreunde unter den Spurenlesern sehen, wie sich die Füße von Möwen und Enten unterscheiden.
Für diese Detailgenauigkeit haben Grolms und seine Mitzeichnerinnen Laura Gärtner und Ulrike Quartier Tuschpunktbilder erstellt. In Originalgröße des Abdrucks zeigen die pointillistischen Zeichnungen den naturnahen Eindruck, den ein Tier auf einem matschigen Boden oder im Sand hinterlassen hat.
Mit spitzem Pinsel detailgenau gezeichnet
Krallen, Zehenballen, Mittelhandballen, ja selbst die Abdrücke der Haare zwischen den Ballen bei manchen Pfotenläufern haben die drei Zeichnerinnen mit spitzem Pinsel Punkt für Punkt auf Papier gebracht. Diese feine, detailgenaue Arbeit ermöglicht ihnen auch die Gewichtsverteilung zu zeigen. Geht das Tier üblicherweise also eher über den großen Onkel oder über die Außenkante des Fußes.
Joscha Grolms: „Tierspuren Europas. Spuren und Zeichen bestimmen und interpretieren. Mit Spuren und Zeichen von Säugetieren, Vögeln, Reptilien, Amphibien und Wirbellosen“.
Stuttgart 2021, Verlag Eugen Ulmer, 816 Seiten, 69,95 Euro
Grundlage dieser Details bilden Maße, die Grolms und eine Schar von Spurenleserinnen und -lesern in jahrelanger kniender Arbeit aufgenommen haben. Mit Maßband, Lineal und Schublehre haben Grolms und die spurenlesenden Citizen Scientists Hunderte Male, bei manchen Tierarten mehr als tausendmal die Länge und Breite von Fußabdrücken gemessen.
Diese Fülle an zugrundeliegenden Daten über die Trittsiegel, über Schrittlängen und Spurbreiten in den verschiedenen Gangarten wie Schritt oder Galopp, über die Asymmetrie im Fußabdruck des Igels und die Zahnabstände beim Biber machen die „Tierspuren Europas“ zu einem wissenschaftlichen Werk im besten Sinne.
Und wie jedes gute wissenschaftliche Werk zeigt das Buch auch die Datenlücken auf. Wenn Grolms keine ausreichenden Daten über den Vorderfuß von Steinböcken hat, lässt er die Zeichnung aus.
Joscha Grolms ist Autodidakt. Auf die Spur gebracht von nordamerikanischen Fährtenlesern, hat Grolms in der Natur von der Natur gelernt. Damit hat er vielen Biologinnen, Naturschützern, Förstern und Jägerinnen mehr voraus, als sie sich eingestehen können. Artenkenntnis, geschweige denn ein Wissen darüber, wie Iltis, Eichhörnchen, Spitzmaus leben, geht seit Jahren auch bei Biologiestudentinnen und Studenten verloren. Studierende und angehende Wissenschaftlerinnen lernen die Tiere als genetische Sequenz im Labor kennen, nicht als Lebewesen in ihrem natürlichen Umfeld. Je wirtschaftlich unbedeutender das Wildtier, desto desolater ist auch der Wissensverlust in der Biologie, und wer heute noch einen Ameisenforscher im Wald sucht, wird in Deutschland keine Spuren finden.
Doch gerade das Erforschen der Tiere im Wald, im Stadtpark, zwischen den Einfamilienhäusern, am Rande des Maisackers, erzählt von dem Drama des Artensterbens und den noch bestehenden Chancen der biologischen Vielfalt in der Klimakrise.
Spurenleserinnen sind immer auch Ökologen. Sie suchen die Spuren und Zeichen der Tiere, weil sie neugierig sind und verstehen wollen, wo die Tiere fressen, schlafen, kacken, kopulieren und ihre Jungen großziehen. Spurenleser sehen daher, welche Tiere in einem Lebensraum fehlen, wo sie eigentlich vorkommen sollten. Sie bemerken aber auch, wenn eine Wildkatze durch den Wald gelaufen ist, in dem sie bislang niemand vermutete.
Spurenlesen ist weitaus günstiger, als jede technische Überwachung der Natur. Und wenn es professionell betrieben wird, ist das Spurenlesen ebenso genau und meistens aufschlussreicher. Naturparks schicken Spurenleser los, wenn sie etwas über Luchse oder Bären in ihren Gefilden lernen wollen.
Auswertung von Wolfsspuren
Die italienische Naturschutzbehörde hat Rehe in einem Waldgebiet von Spurenlesern untersuchen lassen. Sie haben die Kotböppel gezählt und waren damit genauso richtig und erfolgreich, wie die Wildkameras in einem Vergleichswald. Das niedersächsische Umweltministerium hat Joscha Grolms vor ein paar Jahren eingesetzt, um den mutmaßlichen Angriff eines Wolfes auf einen Jäger im Sande des Ackers aufzuklären. Nach Spurenlage war dort kein Wolf entlanggelaufen (taz vom 6. 5. 2015 und 21. 8. 2015).
Grolms vermittelt sein umfangreiches Wissen über die Zeichen der Tiere und das, was sie über ihr Leben erzählen, mit didaktischer Schärfe ohne den Leser zu überfordern. Er will die Nutzerinnen des Buches für die Tiere begeistern. Deswegen finden nicht nur Schrate und Tierfährtenfreundinnen in dem Buch einen Freund. Spurenneulinge lernen mithilfe der „Tierspuren Europas“ wie sie sich selbst auf die Fährte setzen können und den Einstieg in die Welt der Tierzeichen und -spuren finden.
Grolms Tiefe an Sachkenntnis und seine Liebe zu den Tieren vermitteln eine Faszination für das Leben von Bär und Feldgrille, Wühlmaus und Wolf, die die Naturfreundin und den Spurenleser in seinen Bann ziehen. Das Buch ist schwer, über 800 Seiten dick und anspruchsvoll, doch von einer freudigen Leichtigkeit, die nur der wahre Profi erreicht.
Die Autorin Ulrike Fokken hat bei Joscha Grolms einen Lehrgang in Spurenlesen gemacht und war 2018 mit ihm auf einer Spurenlese- und Fährten-Exkursion im Spanischen Nationalpark Coto de Doñana. Ulrike Fokken hat mit Stefanie Argow das Buch „Spuren lesen – Geschichten, die uns die Fährten der Tiere erzählen“ (Quadriga, 2020) geschrieben.
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