Buch über Kunst und Ideen der Moderne: „Eine lebenssprühende Idee“
Die Moderne war ein Ideengestöber voller Beginnergefühl. Robert Misik versucht, diesen Veränderungshunger zu reanimieren. Ein Vorabdruck.
„Ich sah, dass alles getan war. Man musste sich überwinden, eine eigene Revolution vollbringen und bei null beginnen“, sagte Pablo Picasso im Rückblick auf die Jahre eines ästhetischen Umbruches, der Schritt für Schritt ins Unbekannte führen würde. „Um zu wissen, dass wir Kubismus machten, hätten wir ihn kennen müssen! Tatsächlich aber wusste niemand, was das war.“
Picasso und sein Freund Georges Braque entwickelten stilistische Neuerungen, die sie zu den bedeutendsten Künstlern des Jahrhunderts machen sollten. Sie fühlten sich, so drückte es Braque später aus, „wie zwei Bergsteiger am selben Seil“. Der „Moment des Kubismus“ war „ein Beginn“ im eminenten Sinne, wie das John Berger nennen wird.
Die Welt in Stücke, das Bild in Scherben, Wahrnehmungsweisen, die alles neu zusammensetzen.
Die Moderne ist „die Kunst von morgen im Gegensatz zu den konservativen Geschmäckern von heute“, schrieb Berger in anderem Zusammenhang in einer schönen Wendung. „Es wäre absurd zu unterstellen, die großen Maler des letzten Jahrhunderts wären alle Sozialisten, aber was sicher wahr ist, ist, dass sie alle Erneuerungen brachten in der Hoffnung auf eine reichere Zukunft.“
Der Zeitgeist der Moderne
Kunst und Revolution, oder anders formuliert: Moderne, Zeitgeist und radikale Politik, stehen seit gut zweihundert Jahren in einem komplexen Zusammenhang. Es sind nicht politische Bewegungen oder Parteien, die ein Zeitgefühl schaffen. Die Wissenschaften erobern der Erkenntnis neue Kontinente, die Philosophie setzt neue Ideen in den Umlauf, Literatur und Künste erschaffen neue Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, was „Wirklichkeit“ sei, gerät unter Verdacht.
Technologische Revolutionen, alles beschleunigt sich, die Städte ändern ihr Antlitz, ein Wandel kommt in Gang, explizite oder implizite Kritik. Vieles davon geschieht einfach „irgendwie“, als Summe von Kraftfeldern, die niemand steuern kann. Das, was wir gewohnheitsmäßig den Zeitgeist nennen, ist nicht zufällig schwer fassbar, es ist eher eine Atmosphäre.
„Es braucht die große tabula rasa, auf der man spielt, das beginnergefühl“, notiert Bertolt Brecht in sein Arbeitstagebuch. Die moderne Kunst war immer Schrittmacherin des Fortschritts, weil sie neue Wahrnehmungsformen durchsetzte.
Literaten und Literatinnen fanden Sprach- und Schreibweisen, die die politische Pamphletistik beeinflussten. Stilrevolutionen veränderten die Art, wie wir unsere Welt sehen, aber sie beeinflussten auch Menschenbilder. Die Introspektion, die Psyche und Gefühlswelten ergründete, brachte den modernen Individualismus hervor. Sprachrevolutionen sickerten in den Alltag, beeinflussten die Medien, Bildsprachen breiteten sich von der Avantgarde ausgehend aus, wurden vom Überraschenden zum Gewohnten. Wo progressive politische Bewegungen an die Schaltstellen kamen, wie etwa im Roten Wien, wirkten die Künste über Architektur, Design, neue Stilsprachen direkt auf Alltag und Lebenswirklichkeit ein.
Eine „antibürgerliche Ästhetik“
Schon der alte Reaktionär Honoré de Balzac lieferte mit seinen Romanen ein bissiges Gesellschaftspanorama, das als schonungslose Zeitkritik funktionierte. Marx und Engels priesen Balzac, dessen „tiefe Auffassung der realen Verhältnisse“. Die bürgerliche Literatur begründete eine „antibürgerliche Ästhetik“, kritisierte das „niedrige Leben“ der konventionellen Existenzweisen – wie etwa Gustave Flaubert.
„Die Künstler, die Schriftsteller sind Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen und Erschütterungen“, sollte der große österreichische Kommunist Ernst Fischer später schreiben, und tragen dazu bei, „die kapitalistische Welt zu unterminieren“.
Die Sprachrevolutionen der modernen Poesie entwickeln neue Schreibweisen, Baudelaire preist den „Heroismus des modernen Lebens“, ein Pathos der „Gegenwärtigkeit“ kommt auf. „Das Neue“ ist nicht bloß ein Attribut, sondern ein Schlachtruf.
Impressionistisches „Flimmern“, Hass auf die Bourgeoisie, neue Begriffe wie „Nerven“, „Decadance“, „Tempo“, „Intensität“, „Revolte der Jugend“ werden prägend. „Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten ‚unübersteiglichen Schranken‘, die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen“, notiert die phantastische Lou Andreas-Salomé und lebt als eine der ersten Frauen dieser Zeit (alternativ wären George Sand, Louise Aston und einige andere zu nennen) ihr Leben danach, ein Leben in intellektuellen und Künstlerzirkeln von Friedrich Nietzsche über Rene Maria Rilke (sie wird ihm den Namen Rainer verpassen), bis zu Sigmund Freud, dessen späte geistige Wegbegleiterin sie war.
Suche nach dem „Eigentlichen“
Nicht die Wirklichkeit wird abgebildet, sondern die Wirkung, die sie hervorruft – das ist das Programm der Poesie, aber auch der Malerei und anderer Künste auf dem Weg in die Abstraktion. Die bildende Kunst wird zu einer zunehmend „konzeptionellen“ Tätigkeit, in deren Zentrum am Ende nicht ein Objekt steht, sondern eine Idee. Kubismus, Suprematismus, Konstruktivismus, Futurismus, brechen sich Bahn, die dann auch die Alltagsästhetik prägen, die Architektur etwa mit ihrer Ästhetik klarer und nüchterner Linien bis zu Margarete Schütte-Lihotzkys „Frankfurter Küche“.
Die Motive der Kunst sind: Nicht das „falsche Leben“ führen, sondern das „Eigentliche“, was immer das ist. Nicht im Konventionellen verharren, sondern neue Bildsprachen, Erzählformen entwickeln. Auch, die Wut rauslassen.
Die bildenden Künste wenden sich völlig vom Figuralen ab, Kandinsky, Malewitsch, El Lissitzky treiben auf die Spitze, was die Kubisten begonnen haben. Allesamt Spezialisten des Von-vorn-Anfangens. Nicht mehr nur alte ästhetische Formen werden kritisiert, sondern die Institution Kunst selbst, das ist das Programm der späteren Avantgarde. Marcel Duchamp wird zum zweiten großen Künstler des Jahrhunderts, der vielfältigen Wirkungen und Einflüsse wegen, die er zeitigt – beginnend bei Dada, endend bei Warhol und der „Gegenwartskunst“ (ein lustiges Wort, denn seit bald 60 Jahren heißt die Kunst „Gegenwartskunst“, früher hätten in eine solche Spanne locker fünf Epochen hineingepasst).
Überall herrscht Sinnkrise
„Von allen Bewegungen der frühen Avantgarde ist Dada diejenige, die uns heute noch am meisten zu sagen hat“, bemerkt Paul Auster. Überall herrscht Sinnkrise, das Gefühl, dass alles zusammenbricht, und Dadaisten wie Hugo Ball träumen den Traum „von einer vollkommenen Erneuerung“. Ball trägt Klanggedichte vor, als Protest gegen eine verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Daraus entstehen neue Arten von Textformen und Textflächen, liturgische Leiern, atemloses Gestammel auch, neue Rhythmen einer musikalischen Literatur.
André Breton fährt im Sommer 1921 nach Wien, um Sigmund Freud kennenzulernen, kommt aber enttäuscht zurück, weil der Doktor kein Interesse an seiner Ansicht gezeigt hat, das Unbewusste sei besser als der bewusste Zustand.
So wie die radikale Politik von einem Zeitgeist lebte, zu dem die avancierten Künste beitrugen, so lebte auch die radikale Kunst von einem Zeitgefühl, einem Fortschrittsgefühl, dass das Morgen reicher als das Heute sein würde.
„Die Moderne war immer noch eine lebenssprühende Idee“, schrieb Susan Sontag knapp vor der Jahrtausendwende in Rückblick auf die sechziger Jahre. Es ist ein melancholischer, deprimierter Ton: „Wie sehr man sich wünschte, dass ein wenig von der Kühnheit, dem Optimismus überlebt hätte.“
Zweifel an der eigenen Wirksamkeit
Irgendwann in den neunziger Jahren kam es auf, dass die Künste die Sorge um die „Relevanz“ zu plagen begann. Wofür diese „Relevanz“-Diskussionen natürlich ein Symptom sind, ist der Zweifel an der eigenen Wirksamkeit.
Der „Zeitgeist“ heute ist eher ein Gefühl allgemeiner, gesellschaftlicher Stockung. Es fehlt nicht an innovativen Form- und Stilfindungen, aber vielleicht an so etwas wie einem strukturierenden Zentrum in einer multipolaren Kunstwelt ohne Verbindungsglieder. Der Zeitgeist weht anderswo.
Bis zu einem gewissen Grad ist die radikale Kunst auch Opfer ihres eigenen Erfolges. Eine Strategie der „Störung“ dominanter Diskurse, wie sie beispielsweise Elfriede Jelinek betreibt, ist eine Weise, mit der Lage umzugehen. Aufgabe wäre, so der Theatermacher Milo Rau, „das Zeitalter der Skandalisierung zu verlassen, in dem wir Künstler sehr lange festsaßen. […] Die postmoderne Vernunft gefiel sich sechzig Jahre darin, Institutionen zu hinterfragen, sie zu dekonstruieren. Ich glaube aber, das reicht nicht mehr.“