Buch „Unser Körper, unser Leben“: Die Lücke im Regal
Die Schönheit der Klitoris, Zigaretten als Waffe und Menstruationsschwämmchen: Das feministische Handbuch „Unser Körper, unser Leben“ ist das Beste.

Irgendwann letzten Sommer – mich schüttelte gerade eine dieser Hitzewallungen, meine Tochter watete knietief durch ihre Pubertät – war da diese Lücke im Bücherregal. Also nur metaphorisch, in Wirklichkeit war jeder Kubikzentimeter Regalvolumen ausgefüllt wie immer. Es war eine inhaltliche Leere, oder besser: eine seelische, ein bisschen wie Liebeskummer. Mir fehlte meine Stütze, mein Rat, dieses empathiegesättigte, zupackende, wenn auch keinesfalls „objektive“ Kompendium von 639 Seiten, das „Frauenratgeber“ zu nennen eine Beleidigung wäre. Mir fehlte: „Unser Körper, unser Leben“.
Das Buch gilt als früher Klassiker der feministischen Selbsthilfekultur: Das „Boston Women’s Health Collective“ brachte „Our Bodies, Ourselves“ Anfang der 1970er für wenige Cent unter die Leute. Schnell entwickelte sich das Buch über sexuelle Gesundheit und Selbstbestimmung zum Bestseller, wurde in viele Sprachen übersetzt und erfuhr zahlreiche neue Auflagen. Die deutsche Neuausgabe von 1988 („Ein Handbuch von Frauen für Frauen“) landete zu meinem 15. Geburtstag auf dem Gabentisch. Gewünscht hatte ich es mir nicht, es war ein Geschenk meiner Mutter. Damals murmelte ich „Danke“ und schaute etwas verwirrt auf das Umschlagbild, das zwei befreit lachende dunkelblonde Frauen in Weiß zeigte (ich trug eher Schwarz).
Erst heute verstehe ich, was für ein großes Geschenk das war: Auf den Seiten wurde so ziemlich alles verhandelt, womit sich eine heranwachsende junge Frau beschäftigt (soll ich als Vegetarierin Eisenpillen nehmen, warum zwickt der Tampon immer, wie gehe ich mit der Essstörung meiner Freundin um, wachsen meine Brüste eigentlich noch?) oder womit sie vielleicht eines Tages konfrontiert wird (wie komme ich am unauffälligsten an die Pille/einen Schwangerschaftstest/eine Drogenberatung?) – was sie aber unter keinen Umständen mit ihrer Mutter besprechen will.
Damals schleppte ich das Buch kommentarlos in mein Zimmer. Bald wurde es zu einer Gewohnheitslektüre. Ich nahm es zur Hand, um mich über anatomische Details meines Körpers zu informieren. Und las dann quer: über Sport, Frauenliebe, Abtreibung, Selbstbefriedigung. Den Autorinnen ging es nicht um feministische Theorie, sondern um das Teilen von Körper- und Erfahrungswissen.
Sie ließen sehr viele Frauen zu Wort kommen: Schwarze Frauen, schichtarbeitende Alleinerziehende, vergewaltigte Frauen, drogenabhängige Frauen, Frauen mit Behinderung, lesbische Frauen – was meinen bürgerlich-bayerischen Dorfhorizont sehr erweiterte. Sie gaben Lese- und Verhaltenstipps auf eine pragmatisch-fröhliche amerikanische Art.
Manches fand ich banal („Achte beim Laufen auf eine bequeme Schrittlänge und beuge die Knie, um die Stöße abzufedern“), anderes untauglich (wie die Menstruationsschwämmchen oder die Schleimbeobachtungsmethode zur Empfängnisverhütung). Anderes war dagegen erhellend: Empowered vom Ratschlag, mich zu vernetzen, trat ich mit meiner Freundin der lokalen Frauengruppe bei und ertrug erhobenen Hauptes das „Lesben“-Gemurmel. Und als ich beim Trampen (das Buch warnte davor!) einmal in eine hässliche Situation geriet, befreite ich mich mithilfe einer brennenden Zigarette, die ich dank der Bostoner Ladies als „legale Waffe“ abgespeichert hatte.
Das Buch zog mit mir von zu Hause aus und durch die WGs. Zur Hand nahm ich es immer seltener, ich entdeckte stattdessen feministische Theorie und Literatur. Auf dem Nachttisch meiner Mutter tauchte irgendwann der zweite Band „Älter werden“ auf, während ich meinen entsorgte. Zu altmodisch, es gab Aktuelleres!
Nur: so eine Mischung von feministischer Tatkraft und praxistauglichen Tipps habe ich eben nie wieder gefunden. Und da saß ich dann, mit meinen Hitzewallungen und der Pubertät. Und bestellte mir „Unser Körper, unser Leben“ secondhand. Die Lücke in meinem Bücherregal ist jetzt wieder gefüllt. Und vielleicht lasse ich das Buch demnächst „zufällig“ auf dem Lieblingsplatz meiner Tochter liegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Grünen und die Schuldenbremse
Im Nein steckt eine Chance
CDU-Anfragen zu NGOs
Neue Offensive gegen die Zivilgesellschaft
Geplante Grundgesetz-Änderungen
Linke stellt Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht
AfD und Linke klagen in Karlsruhe
Schwächung der Opposition per Gesetzesänderung
Ukraine-Gespräche in Saudi-Arabien
Was Selenskyj noch bleibt
Leitantrag für Linken-Parteitag im Mai
„Kultur der revolutionären Freundlichkeit“