Buch „The History of EC Comics“: Anspruch und Provokation
Zur Geschichte des New Yorker EC-Comic-Verlags ist ein Kompendium im Taschen Verlag erschienen. Ein Fest für Freunde von Trash und Populärkultur.
Carl Reissman sitzt in der U-Bahn und hat Angst. Die zusteigenden Fahrgäste mustert er aufmerksam. Der Erzähler der Comic-Geschichte stellt ihn als deutschen Einwanderer vor, der zu Kriegsende aus einem Konzentrationslager floh und nun in den USA lebt. Doch dann tritt ein schwarz gekleideter Mann ein. Reissman erkennt ihn als einen, der ihm einst Rache schwor. Er flüchtet. Der Mann verfolgt ihn.
Parallel dazu erfahren die Leser:innen Reissmans tatsächliche Geschichte: Er war ein eifriger Anhänger der Nazis. Ja, er war im Lager, aber nicht als Gefangener. Er war der Lagerkommandant.
Der achtseitige Comic versteht es geschickt, die Erwartungen der Leser:innen zu unterlaufen. Innerhalb weniger Seiten ändert sich die Wahrnehmung komplett. Glaubte man zunächst, es mit einem traumatisierten ehemaligen KZ-Insassen zu tun zu haben, wird dieser Eindruck nach wenigen Seiten auf den Kopf gestellt. Am Ende stürzt Reissman ins Gleisbett und wird überrollt.
Ob er zum Opfer seiner eigenen Paranoia wurde oder ob er wirklich einem ehemaligen Gefangenen begegnete, bleibt offen. „Master Race“, so der Titel dieser Erzählung, geschrieben von Al Feldstein, gezeichnet von Bernard Krigstein, erschien 1955 im Comicheft „Impact“ des EC Verlags. Es ist ein herausragendes Beispiel für eine anspruchsvolle grafische Erzählung in einer Zeit der industriellen US-Comicproduktion, in der die Superhelden dominierten.
Facettenreiche Geschichte
Der Taschen Verlag würdigt das legendäre Comiclabel, das vor 75 Jahren von Max Gaines in New York gegründet wurde, nun mit dem umfangreichen Sekundär- und Bildband „The History of EC Comics“. Der 1953 geborene US-Autor Grant Geissman, ein bekannter Jazz-Musiker, hat bereits mehrere Bücher über EC verfasst und legt nun ein vollständiges Porträt des Verlags vor. Die chronologisch angelegte, facettenreiche EC-Geschichte wird durch zahlreiche seltene Dokumente, Fotos und Abbildungen aus den Comics veranschaulicht.
Der Pionier Max Gaines (geb. 1894) versuchte bereits ab 1933 als einer der Ersten, Comics abseits der Zeitungsstrips als eigenes Format zu verkaufen. So versah er die bisher kostenlosen Comic-Werbebeigaben mit 10-Cent-Stickern – das Erfolgsmodell der Comic Books war geboren! Mit Partnern gründete er 1940 „All American Comics“ und startete zahlreiche Heftreihen mit neuen Superhelden wie The Flash, Green Lantern oder Wonder Woman.
Gaines sah aber auch die didaktischen Möglichkeiten des Mediums und lancierte Herzensprojekte wie „Picture Stories from the Bible“. 1944 gab er seine Rechte an National Allied (später DC) ab und gründete in New York einen neuen Verlag: EC – Educational Comics, in dessen Programm er versuchte, Bildungs- und Unterhaltungsansprüche zu verbinden. Die „Picture Stories“ sollten sein Zugpferd werden und wurden durch weitere Titel wie „Picture Stories from Science“, „Picture Stories from History“ usw. erweitert.
Entertaining Comics
„Moon Girl“ folgte als Serie der Heldin Wonder Woman nach. Spezielle Kindercomichefte mit Tier- und Familienstorys gingen ebenfalls in Druck. Doch Max Gaines starb überraschend 1946 bei einem Bootsunfall. Sein 25-jähriger Sohn Bill übernahm die Geschäftsleitung. Mit ihm begann der eigentliche Aufstieg des Verlags, auf dem sein heutiger Mythos beruht.
EC wurde nun in „Entertaining Comics“ umbenannt. Doch mit Erziehung hatte Bill nichts am Hut. Zunächst dominierten Teenie-Schnulzen wie „Modern Romance“ oder Westerncomics („Gunfighter“) das Verlagsprogramm. Doch verkauften sich die Comics für Teenager immer schlechter. Bill Gaines spürte, dass die Zeit reif für ambitioniertere Projekte war, die ältere Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen sollten.
Sein wichtigster kreativer Partner wurde der Zeichner Al Feldstein, der sich bald auch als Autor und Redakteur profilierte. Statt bewährte Muster zu kopieren, leiteten Gaines und Feldstein 1950 den „New Trend“ ein. Sie experimentierten mit Genres, die bisher im Comic nicht dominierten: Thriller, Horror, Science-Fiction und Krieg.
Die neuen Hefte trugen reißerische Titel wie „The Haunt of Fear“, „Tales from the Crypt“, „The Vault of Horror“, „Crime Suspenstories“, „Shock“ oder „Weird Science“. Sie sollten das jeweilige Genre klar bedienen, aber mit ironischem Augenzwinkern. Die Cover waren besonders sorgfältig gestaltet und nahmen Story-Höhepunkte der einzelnen Hefte in einem verdichteten Panel vorweg.
Zeichner mit Kultstatus
Das Konzept ging auf. Bald versammelte Bill Gaines ein Team junger, begabter Zeichner um sich, die heute Kultstatus genießen, wie etwa Wallace Wood, Graham Ingels, Joe Orlando, Johnny Craig, Jack Davis oder Al Williamson. Meist erzählten sie grafische Short Storys mit äußerst straffen Plots, die auf eine verblüffende, makabre oder fiese Pointe zusteuerten. Auch die bildliche Auflösung war oft so einfallsreich und spannend, dass der Erfolg der Hefte anhielt. Die „Crime Stories“ boten realistische Thriller im Stil der Noir-Autoren James M. Cain oder Cornell Woolrich.
In den Horrorserien sorgten skurrile, modrige Erzählfiguren wie „The Old Witch“ oder „The Crypt-Keeper“ für klassischen Gruselspaß, die SF-Storys adaptierten unter anderem Storys von Ray Bradbury. Zeichner Harvey Kurtzman profilierte sich, indem er für die Kriegsreihen „Two-Fisted Tales“ und „Frontline Combat“ eindringliche, realistische Kriegserzählungen zeichnete und schrieb, wie „Atom Bomb“ (1953, gezeichnet von Wallace Wood), in der die Perspektive von Bewohner:innen Nagasakis 1945 eingenommen wurde und der Moment des Bombenabwurfs durch gezeichnete Effekte wie eingefroren wirkte.
Andere Storys bildeten den noch anhaltenden Koreakrieg ab. In Kurtzmans „Air Burst“ von 1952 waren die Protagonist:innen gar Chinesen. Kein Wunder, dass dem Verlag vom FBI ein „Mangel an Patriotismus“ vorgeworfen wurde. Dabei produzierte EC sicher die anspruchsvollsten Comics, die damals zu haben waren – einzig Will Eisners „Spirit“-Krimis spielten auf ähnliche Weise mit der Erzählform. Diese Blütezeit sollte leider schon bald zu Ende gehen, denn staatliche Institutionen, Eltern- und Lehrerverbände hatten die Comichefte ins Visier genommen.
Grant Geissman: „The History of EC Comics“. In englischer Sprache. Taschen Verlag, Köln 2020, Hardcover, Großformat, 592 Seiten, 150 Euro, 6,03 kg www.taschen.com
Es kam zu Anhörungen im Senat in Washington. Aufgehetzt durch das Buch „Seduction of the Innocent“ des Psychiaters Fredric Wertham, das Comics Gewaltverherrlichung vorwarf und einen direkten Bezug zur hohen Jugendkriminalität herstellte, wurde ab 1955 der „Comic Code“ eingeführt, eine strikte Selbstzensur der Verlage. Viele Bundesstaaten verboten obendrein alle Hefte, die mit „verruchten“ Titeln wie „Horror“, „Terror“ oder „Crime“ warben. Die Cover des EC-Verlags fielen besonders negativ auf (auf CrimeSuspenStories vom Mai 1954 hatte Zeichner Johnny Craig den abgeschlagenen Kopf einer Frau gezeichnet), sodass Gaines bald sämtliche Serien einstellen musste.
Das Magazin MAD
Einzig MAD überlebte: das 1952 eingeführte Satireheft, das von Harvey Kurtzmans schrägem Humor geprägt wurde, erwies sich als Renner. Durch ein größeres Format wurde MAD vom Comic Book zum Magazine umgerüstet und konnte sich so den Fängen der Zensur entziehen.
MAD beeinflusste unter anderem die US-Undergroundcomics der 60er Jahre und inspirierte auch europäische Humoristen wie René Goscinny oder Marcel Gotlib. Horror- und Thrillerfreunde mussten hingegen Jahre warten, bis nachfolgende Generationen sich der EC-Hefte erinnerten und neue Storys in deren Geist schufen.
Unter den EC-Lesern und -Fans der ersten Stunde tummeln sich Autoren wie Stephen King, Filmemacher wie Steven Spielberg, George A. Romero, Terry Gilliam und Comiczeichner wie Robert Crumb, Richard Corben oder Bernie Wrightson.
Grant Geissman gelingt es, diese außergewöhnliche Geschichte eines wagemutigen Kleinverlags in den USA auf enorm fesselnde Weise und mit viel Insiderwissen zu erzählen. Neben sorgfältig ausgesuchten Auszügen werden einige EC-Comics komplett abgedruckt und viele bisher unveröffentlichte brillante Tuschelayouts mit den fertigen kolorierten Seiten verglichen.
Eine Covergalerie sämtlicher EC-Hefte schließt als besonderes Highlight das Buch ab und macht deutlich, dass der 1992 verstorbene Bill Gaines auch damit Maßstäbe setzte. Aber Achtung, auf dem Friedhof lauert der Crypt-Keeper!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen