Britische EU-Anhänger machen mobil: Labour wachrütteln
Zum Auftakt des Labour-Parteitags fordert „People's Vote“ ein neues Brexit-Referendum. Die Kampagne will die Opposition auf ihre Seite holen.
Die Teilnehmer der Demonstration kamen aus allen Teilen des Landes, darunter überraschend viele ältere Menschen. Zahlreiche Marschierer hatten sich in große EU-Fahnen eingewickelt, favorisierte Kopfbedeckung war ein blaues Stoffbarett mit einem Kreis gelber Sterne. Damit machten sie klar, wofür sie bei einem neuen Referendum stimmen würden.
„Vor zwei Jahren wusste keiner, was es heißt, für den Brexit zu stimmen“, sagt der Endzwanziger Robert Smith aus Manchester, der zum ersten Mal überhaupt an einer Demo teilnimmt. Eine zweite Abstimmung sei für ihn unabdingbar, denn erst jetzt sei man besser im Bilde. „Kommt dann erneut eine Mehrheit für den Austritt zustande, wäre das okay für mich, denn nun wissen wir ja, was wir tun.“ Paul Jackson ist eindeutiger: „Die Politiker sollen endlich zugeben, dass der Brexit einfach verrückt ist“, meint der Mittfünfziger, auch er ein Demo-Neuling, der extra mit seiner Familie aus Shrewsbury gekommen ist. „Aber bisher hatten sie nicht den Mut dazu“, fügt er auch mit Blick auf die Labour-Parteispitze hinzu.
Vermutlich nicht so sehr die Demonstration, wohl aber der Druck von der Parteibasis könnte die Labour-Spitze zu einer Revision ihrer bisherigen Haltung in der Brexit-Frage bewegen. Ortsverbände und Gewerkschaften haben insgesamt 140 Anträge in Sachen Brexit zur Behandlung auf dem Parteitag vorgelegt, und die meisten davon machen sich stark für eine zweite Abstimmung über den EU-Austritt Großbritanniens. Der Antragsflut folgte am Samstag die Veröffentlichung einer von People's Vote in Auftrag gegebenen Umfrage von YouGov, wonach 86 Prozent aller Labour-Mitglieder mittlerweile ein zweites Referendum bejahen würden.
Auch die Labour-Basis in Liverpool spricht sich offensiv für ein zweites Referendum aus. Zahlreiche Mitglieder versammelten sich hinter einem großen Pro-EU-Transparent auf den Stufen der St. George's Hall, dem Startpunkt der Demo. „Liverpool war vor zehn Jahren EU-Kulturhauptstadt, es hat viele Fördergelder erhalten. Wir besitzen eine besonders starke Verbindung zur EU, die wir nicht abreißen lassen wollen“, sagt Labour-Gemeinderätin Sharon Connor.
Tauziehen hinter den Labour-Kulissen
Erwartet wird, dass Labours Haltung zum Brexit spätestens am Dienstag Thema auf dem Parteitag wird. Schon am Sonntagmorgen machte Labour-Chef Corbyn in einem Interview mit dem Sunday Mirror deutlich, dass er ein wie auch immer geartetes Votum des Parteitags zum Referendum respektieren werde. Vorrangiges Ziel sei eine vorzeitige Parlamentswahl, um die Regierung von Theresa May abzulösen.
Kommentatoren warnten davor, die Äußerungen Corbyns überzubewerten. Entscheidend ist der genaue Wortlaut des Antrags zum Referendum, über den auf dem Parteitag entschieden wird. Er sollte noch am Sonntagabend Gegenstand von Verhandlungen hinter den Kulissen werden. Es könnte darauf hinauslaufen, dass eine zweite EU-Abstimmung nur erwogen wird, sollte es keinerlei Aussicht auf Neuwahlen geben.
Eine solche Haltung nimmt beispielsweise der innerhalb der Partei sehr einflussreiche Gewerkschaftsdachverband TUC ein. Dies würde der Labour-Führung noch am ehesten passen. Sie muss jedoch auch damit rechnen, dass die Parteitagsdelegierten mehrheitlich fordern, Labour solle auf jeden Fall das Versprechen eines neuerlichen EU-Referendums in ihr Wahlprogramm aufnehmen.
Der Londoner Labour-Abgeordente Chuka Umunna ist kein Freund von Jeremy Corbyn. Im Gegenteil: Ihm wird nachgesagt, er sei könnte den Brexit zum Anlass nehmen, eine Abspaltung der „Remainer“ von der Partei herbeizuführen. Er ist einer der Initiatoren von People's Vote und ebenfalls unter den Demonstranten in Liverpool. Gegenüber der taz begrüßte er, dass sich zumindest der Ton der Parteiführung geändert habe. Er fordert aber von ihr, das Anliegen von People's Vote klar zu unterstützen. „Je unmissverständlicher der Wortlaut des Antrags sein wird, desto besser.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“