Britische Atomanlagen nach dem Brexit: Wem gehört das Plutonium?
Bislang sind zum Brexit noch fast alle Fragen offen. Auch die nach der Verantwortung für die Nuklaranlagen in Großbritannien.
Der britische Handelsminister Liam Fox hat vor einer Abkehr vom Brexit gewarnt. Das sagte Fox in einem Interview mit der Sunday Times. Sollte das Parlament das mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen ablehnen, stünden die Chancen 50 zu 50, dass der Brexit nicht stattfinde. Die Botschaft des Handelsministers richtet sich vor allem an Brexit-Hardliner im britischen Parlament. Sie lehnen das Abkommen von Premierministerin Theresa May ab, weil ihnen der darin vorgesehene Bruch mit Brüssel nicht deutlich genug ist.
Ebenfalls noch undeutlich ist, was im Falle eines Brexit aus den britischen Atomanlagen wird. Am 17. Oktober 1956 hat die Queen das erste voll funktionsfähige Atomkraftwerk der Welt eröffnet: Calder Hall in Cumbria, das 2003 abgeschaltet wurde. Die Ruine gehört heute zur Atomanlage Sellafield, wo mehr als 10.000 Menschen arbeiten. Insgesamt sind in Großbritannien 65.000 Menschen in der Atomindustrie beschäftigt.
In Sellafield lagert genügend Plutonium für 20.000 Atombomben. Das Material unterliegt der Aufsicht von Euratom, das 1957 durch die Römischen Verträge von Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Großbritannien kam mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 hinzu. Seitdem sind Euratom-Inspektoren ständig in Sellafield stationiert, der Organisation gehören Kameras, Siegel und Testlaboratorien.
Wem aber gehört das Plutonium? Diese Frage wird nach dem Brexit akut, denn Großbritannien verlässt dann gleichzeitig Euratom. Es untersteht nämlich dem Europäischen Gerichtshof, und das sei nicht vereinbar mit dem Ziel, durch den Brexit „die Kontrolle zurückzugewinnen“, sagte Premierministerin Theresa May. Das Londoner Oberhaus hat vergeblich versucht, den Verbleib in Euratom zu erzwingen. Allerdings will May, dass Großbritannien weiterhin dem Forschungsbereich von Euratom angehört, und ist auch bereit, dafür zu zahlen. Dieser Bereich, so meint sie, sei nicht vom Europäischen Gerichtshof geregelt.
„Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“
Großbritannien und die EU müssen sich nach dem Brexit einigen, ob es sich bei dem Plutonium um einen Vermögenswert oder um eine Belastung handelt, wenn man bedenkt, dass es rund 80 Millionen Pfund im Jahr kostet, das Zeug zu lagern und zu sichern. Ein Fünftel stammt aus der Wiederaufbereitung von Atommüll aus Deutschland, Schweden, Frankreich und den Niederlanden.
Euratom ist ein merkwürdiges Gebilde. Seit 1957 hat sich an dem Euratom-Vertrag praktisch nichts geändert. Vorrangiges Ziel ist immer noch die „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“. Das erscheint heutzutage anachronistisch, denn von der damaligen Euphorie über die Atomkraft, die sogar in der Küche eingesetzt werden sollte, ist nichts mehr übrig. Dennoch befürchten Atomkraftgegner, dass mit dem britischen Ausstieg aus Euratom die Sicherheitsstandards unterlaufen werden könnten.
Das Ministerium für Unternehmen, Energie und industrielle Strategie in London behauptet dagegen, dass „sämtliche internationalen Vereinbarungen vor dem Rückzug aus Euroatom unter Dach und Fach“ sein werden. „Diese neuen Vereinbarungen garantieren die ununterbrochene Kooperation und den Handel im nuklearen Sektor nach unserem Ausscheiden aus Euratom“, heißt es in einer Erklärung.
Das Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, wonach das bereits bestehende Office for Nuclear Regulation die Sicherheitskontrollen übernehmen soll, für die bisher Euratom zuständig ist. Außerdem hat man mit der International Atomic Energy Agency im Juni einen ersten Vertrag über Zusammenarbeit unterzeichnet, aber das ist erst der Anfang. Bis zum Brexit müssen noch zahlreiche Punkte geklärt werden.
Zahlreiche Unfällen in Sellafield
In Irland beobachtet man den britischen Austritt aus Euratom besonders argwöhnisch, liegt Sellafield doch praktisch vor der Haustür. Bei den zahlreichen Unfällen in der Atomanlage wurde die irische Ostküste stets in Mitleidenschaft gezogen, aber die Klage vor den Vereinten Nationen blieb erfolglos. Darüber hinaus urteilte der Europäische Gerichtshof 2006, dass Irlands Vorgehen illegal gewesen sei, weil die UN-Klage die Autonomie des EU-Rechtssystems untergraben habe. Nach dem Brexit kann Irland aber auch vor dem Europäischen Gerichtshof nicht mehr gegen Sellafield vorgehen.
Unterdessen bucht die britische Regierung in Vorbereitung auf einen ungeregelten Brexit vorsorglich Fähren für umgerechnet mehr als 120 Millionen Euro. Damit soll die Versorgung des Landes gesichert werden, wenn wegen neu eingeführter Grenzkontrollen der Verkehr zwischen der Insel und der EU ins Stocken gerät.
Die zusätzlich gemieteten Schiffe sollten Häfen in Südengland wie Portsmouth, Poole oder Plymouth anlaufen, teilte das Verkehrsministerium am Wochenende mit. Es handle sich um eine Notfallmaßnahme. „Auch wenn wir weiterhin daran arbeiten, dass es zu einem Austrittsabkommen kommt, bereiten wir uns auf alle Szenarien vor.“
Derzeit verkehren täglich rund 16.000 Lkws zwischen dem französischen Calais und Dover in Südengland. Sie transportieren etwa Lebensmittel, Medikamente oder Industriegüter. Sollten nach dem EU-Austritt in drei Monaten Grenzkontrollen eingeführt werden, wird mit langen Staus auf beiden Seiten des Ärmelkanals gerechnet.
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