Brief eines Kubaners nach Castros Tod: „Fidel hat jungen Leuten nie vertraut“
Unser Autor verdankt Fidel Castro sein Studium, sein Haus und das Leben seiner Mutter. Dennoch kann er nicht um ihn weinen.
Santiago de Cuba, 29. 11. 2016
Lieber B.,
gestern hast du mich gefragt, wie ich mich fühle. Mir geht es sehr schlecht, aber ich habe das nicht richtig ausdrücken können. Ich möchte dir schreiben, welche entgegengesetzten Kräfte in meiner Seele gerade aneinanderknallen. Ich fühle mich fiebrig. Es ist nicht der Tod von Fidel, der mich leiden lässt. Mir tut weh, dass er diesen Tod übersteht, als ob er jetzt noch lebendiger wäre. Und ich fürchte, dass das Schlechteste von ihm bleiben wird.
Ich bin aus einer armen Familie. Fidel bedeutete für uns eine Chance. Dank der Revolution, die er anführte, konnte meine Mutter zwei Krebserkrankungen überleben. Dank seiner Errungenschaften habe ich studiert, genau wie meine sechs Geschwister. Ich bin ganz sicher, dass wir seinetwegen ein Haus haben, ein Dach und einen kleinen Hinterhof. Ich glaube an seine Fähigkeit, einer großen Masse Zuversicht zu geben, die sonst einfach weitergeschlafen hätte. Das ist die eine Kraft, die mich dazu bringt, um ihn weinen zu wollen.
Die Zensur vergiftet die Seele
Aber da ist die andere Seite, die mich nicht mit Fidel im Reinen sein lässt, und sie vergiftet mir die Seele. Gerade eben ist der Film „Santa Y Andrés“ des Regisseurs Carlos Lechuga der Zensur zum Opfer gefallen. Du weißt, dass ich nicht nur Journalist bin, sondern auch Filmemacher. Und neben Journalist und Filmemacher bin ich auch noch ein Mensch, der scheißt, weint und Kinder hat. Dieser Akt der Zensur ging nicht nur gegen einen Kollegen, mit dem ich in meinem Leben nicht einmal 20 Minuten gesprochen habe. Er geht auch gegen mich.
Es regt mich auf, dass ein guter Teil Kubas um Fidel weint, obwohl diese Dinge geschehen. Und dass es diesem Teil nicht möglich sein wird, mit Lechuga und mir mitzufühlen. Während diese kolossalen Trauerfeiern laufen, fühlt ein Großteil der kubanischen Filmemacher den gleichen Schmerz wie ich. Jedes Mal, wenn sie eine neue Heiligsprechung Fidels hören, gibt es einen Stich. Auf allen Fernsehsendern. Alles erscheint wie ein großer kafkaesker Zirkus. Ganz ehrlich: Ich beneide jene, die weinen können, weil er nicht mehr da ist.
Im Kuba von heute herrscht eine große Ignoranz gegenüber persönlichen Projekten und Unternehmungen. Über so lange Zeit kamen alle großen Initiativen von Fidel – nicht weil er der Intelligenteste gewesen wäre, sondern weil er die Macht hatte, sie umzusetzen. Die Energierevolution zum Beispiel mit den dezentralen Stromnetzen war ihm irgendwann eingefallen, aber so etwas gab es woanders schon seit Jahrzehnten. Mit Sicherheit hätte ein anderer Kubaner, wenn er gedurft hätte, diese Idee viel früher umsetzen können.
Die Liste solcher Projekte ist lang, und die Liste kolossaler Fehlschläge auch. So wie Fidel alle Macht auf sich konzentrierte, so riesig waren natürlich auch seine Misserfolge.
Das Erbe Fidels in Frage stellen
Ich fühle mich nicht wohl damit, gerade in diesem Moment Teile des Erbes von Fidel infrage zu stellen. Ich will sein riesiges Vermächtnis gar nicht in den Schmutz ziehen, denn ich habe davon profitiert. Aber ich will, dass du weißt, dass es in Kuba eine noch kaum entwickelte Vorstellung davon gibt, was ein Einzelner für die Gesellschaft leisten kann. Sicher, man kennt die Geschichten vom einfachen Arbeiter, der eine geniale Lösung findet, um ein Teil zu ersetzen, das wegen der US-Blockade nicht im Ausland gekauft werden kann. Und der deswegen eine Prämie erhält, mit der er sich kaum ein Paar Schuhe kaufen kann, was die Prämie in meinen Augen noch schöner macht. Ein Dichter verlangt ja auch kein Geld dafür, dass er Dichter wird. Es geht um Befriedigung. Ein Trieb. Eine Geisteshaltung ähnlich der, die Fidel in die Politik getrieben hat.
Am vergangenen Freitag gegen Mitternacht Ortszeit verkündete Kubas Präsident Raúl Castro, der jüngere Bruder des Verstorbenen, den Tod des Revolutionsführers.
Zwei Tage lang defilierten Zehntausende Kubaner*innen an der Plaza de la Revolución in Havanna an einem Ehrenmal für Castro. Am Dienstagabend kam rund eine Million Menschen zu einer Trauerkundgebung zusammen.
Bis Sonntag ist eine Karawane mit der Asche Fidels quer über die Insel unterwegs – auf dem umgekehrten Weg der siegreichen Rebellen, die Anfang 1959 aus der Sierra Maestra in die Hauptstadt zogen. Dann soll die Urne in Santiago de Cuba beigesetzt werden.
Aber von den individuellen Beiträgen von Leuten wie Lechuga und Claudia Calviño, seiner Produzentin, weiß man wenig. Sie wollen kein Filminstitut haben, das die nationale Filmproduktion monopolisiert, sondern einen Film machen. Einen Film! Einen Film, in dem sie ihre kleine Meinung ausdrücken können. Denn sie wollen etwas beitragen. Dank dieses Erbes von Fidel ist das nicht möglich.
Viele hat er eingesperrt. Er hat ihnen nicht nur die Freiheit genommen, ihre Meinung zu sagen, sondern auch die, ihre Kinder zu küssen, sie wachsen und lernen zu sehen. Ich finde das schrecklich, denn darunter leiden auch sämtliche Prinzipien der Linken. Als ob der linken Idee von Emanzipation und Befreiung immer schon ihr Gegenteil innewohne, der Keim von Unterdrückung der Meinungsäußerungen und der Freiheit.
Die kubanischen Filmemacher würden gerne sehen, dass dieser Film auf dem Filmfestival von Havanna im Wettbewerb läuft. Aber die Geisteshaltung, die mein geliebter, widersprüchlicher Fidel installiert hat, lässt es nicht zu, dass die Führung diesen Film das Licht der Welt erblicken lässt. Sie sind auserwählt, zu wissen, was das Volk sehen will, sie müssen für das Volk denken, denn das Volk ist unfähig, selbst darüber zu entscheiden, was das Beste ist. Nur die Avantgarde ist erleuchtet genug, um das zu wissen.
Der Fall von Lechuga und Claudia Calviño ist nicht der einzige. Da gibt es Leute wie Elaine Díaz, die mit Periodismo de Barrio ihr eigenes Medium geschaffen hat (das bislang dem Gegenwind standgehalten hat). Eine mutige Frau, von der man nie in der Zeitschrift Mujeres oder der TV-Sendung Cuando una mujer … hören wird. Auch nicht in Granma oder Juventud Rebelde.
37, lebt als Journalist in Santiago de Cuba. Einige Jahre arbeitete er für den staatlichen lokalen Rundfunk, jetzt schreibt er hauptsächlich für Progreso Semanal. Im Juni nahm er am taz Panter Workshop in Berlin teil.
Von null beginnen
Fidel hat die Vorstellung davon, dass ein Individuum eine Idee bei null beginnen und mit anderen weiterentwickeln kann, aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht. Ich bin ehrlich stolz auf Kubaner, die im Land bleiben und solche Dinge machen. Ich bin stolz, Zeuge der Revolution zu werden, die sich jetzt in Kuba ereignet. Die Bürger brauchen keine Genehmigung mehr, um einen Computer zu besitzen. Das Internet breitet sich aus, wenn auch zu horrenden Preisen. Ich kann für Medien schreiben, die nicht vom Staat kontrolliert werden. All das sind enorme Fortschritte in Sachen Meinungsfreiheit.
Kubas Revolutionär
Ich weiß nicht, ob Fidel an der Macht das alles zugelassen hätte. Er hat es jedenfalls nie erlaubt. Fidel hat den jungen Leuten niemals vertraut, auch nicht den Studenten – vielleicht weil er sich erinnert hat, wie er selbst als Student war.
Ich bin stolz, in einem Land zu leben, in dem meine Tochter zur Universität gehen und sich kostenlos im Krankenhaus behandeln lassen kann, zwei enorme Errungenschaften, die leider auf dem Rückzug sind (weil Fidel nie kreative Lösungen gefunden hat, um dauerhafte materielle und moralische Anreize zu schaffen). Aber vor allem bin ich stolz darauf, dass ich ein Land mit aufbauen kann, das Unternehmungen gegenüber toleranter ist, die die Lebensqualität der Kubaner um den Faktor 100 steigern könnten, mit ehrgeizigen Ideen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Bezahlung, das Leben, und es ermöglichen, uns von der erniedrigenden Unterstützung der Verwandten und Freunde im Ausland unabhängig zu machen.
Für jemanden wie mich, der mit der Heiligsprechung Fidels nicht klarkommt (ich wünschte, ich könnte), ist der Comandante ein Macher, der mich genauso inspiriert wie Elaine und Claudia Calviño. Ich frage mich, ob es für sie und für mich in dieser neuen Gesellschaft, die wir entwickeln werden, einen Platz geben wird. Ich glaube, ja. Ich glaube, dass wir das erreichen, dank der Willensstärke des Comandante, die wir uns selbst zu eigen machen müssen.
Es hat gutgetan, dir das zu schreiben. Jetzt bin ich optimistisch, auch wenn mein Ziel am Anfang dieses Briefes eigentlich war, dir zu zeigen, warum ich gestern solche Angst und solche Beklemmung verspürt habe.
Diese Mail schrieb Moreno unserem Auslandsredakteur Bernd Pickert. Er übersetzte sie für uns aus dem Spanischen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner