Bremer Senatorin Anja Stahmann hört auf: „Nichts tun fällt mir schwer“
Zwölf Jahre lang war Anja Stahmann Sozialsenatorin in Bremen. In dieser Zeit hat sie viel Kritik einstecken müssen, auch von der taz.
wochentaz: Frau Stahmann, als Sie auf der Grünen-Mitgliederversammlung Ende Mai Ihren Rücktritt verkündet haben, haben Sie in der dritten Person über sich gesprochen. „Das geht jetzt ohne Anja Stahmann, die 24 Jahre für euch geackert hat.“ Unterscheiden Sie zwischen sich als Politikerin und als Mensch?
Anja Stahmann: Eigentlich nicht. Ich mache Politik mit Haut und Haar.
Haben Sie sich nie gefragt, ob das noch Sie selbst sind?
Klar beobachtet man sich auch. Die Arbeitsbelastung kann sehr hoch sein, als Senatorin ist das noch mal eine wesentlich höhere Schlagzahl als als Abgeordnete. Man muss aufpassen, dass man die Balance hält zwischen Privatem und Arbeitsleben. Im Herbst und Winter 2015, als so viele Geflüchtete kamen, ging das nicht. Da war man nur zum Schlafen zu Hause.
Wie lange ging das?
Eine ganze Zeit. Vor allem fing das nicht erst am 5. September 2015 an, als Angela Merkel gesagt hat, die Menschen dürften einreisen, sondern zwei Jahre vorher. Zu der Zeit hat sich die Bundespolitik mit der Eurorettung beschäftigt und wir haben hier gesagt: Merkt eigentlich niemand, dass hier ein großes Thema am Laufen ist? Da hatten wir erst eine Zunahme bei den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Statt 20 im Jahr kamen auf einmal 20 im Monat, und dann immer mehr Familien. Spätestens ab Januar 2015 hatten wir mit dem Aufnahmegeschäft gut zu tun.
Und dann kam 2020 die Pandemie. Was braucht es, um diesen Job in solchen Zeiten zu machen? Härte gegen sich selbst?
Bestimmt auch. Am wichtigsten ist es, je unübersichtlicher und schwieriger eine Situation ist, desto ruhiger muss man werden und sich die Zeit geben nachzudenken, welche Handlungsmöglichkeiten man hat.
In der Regierungsverantwortung können Sie es nie allen recht machen, irgendwer fühlt sich immer übergangen, manchmal auch zu Recht und Sie wissen es.
Das mag jetzt banal klingen, aber man muss die guten Augenblicke im Kleinen wahrnehmen, wo man vielleicht zusammensitzt mit Leuten, die man mag. Als ich Abgeordnete war, war ich mal länger krank, mit einem Erschöpfungssyndrom. Das kennen ja viele, Kinder zu Hause, Familie, man will arbeiten, aber auch im privaten Leben bestehen, da läuft man in unserer Gesellschaft schon mal heiß und über die Grenzen hinaus. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass es gut ist, das Tempo rauszunehmen. Anstatt die 61. Stunde zu arbeiten, lieber zeichnen, spazieren oder schwimmen gehen. Dabei kommen mir oft ganz unverhofft gute Ideen.
Bevor Sie 1999 in die Bürgerschaft gewählt wurden, haben Sie in einem selbst verwalteten Jugendzentrum gearbeitet. Hat Ihnen das in der Politik geholfen?
Dort gab es viele unübersichtliche Strukturen, und ich habe gelernt, dass man, wenn man etwas erreichen will, alle an einen Tisch holen muss. Das habe ich als Senatorin hier in der Verwaltung auch gemacht und das war für die Mitarbeitenden echt neu. Die kannten es nicht, dass jeder was sagen durfte, dass sich alles angehört wurde und ich nachgefragt habe. Ich glaube, das hat zu einer neuen Qualität im Haus geführt, dass wir mit einer Art von Schwarmintelligenz unterwegs waren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Unser erstes großes Thema war der Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige zu realisieren, dafür hatten wir bis zum 1. August 2013 knapp zwei Jahre Zeit. Wir, also mein Staatsrat und ich, hatten eine Fachrunde dazu eingeladen und wurden begrüßt mit den Worten, „das schaffen wir nicht“. Ich habe gefragt, was es braucht, damit es klappt. Da kam alles Mögliche: mehr Flexibilität beim Bauen, mehr Personal, mehr Geld. Das sollten die mir aufschreiben und mit der Liste bin ich los und habe im Senat das Geld besorgt. Parallel habe ich mit vielen Leuten in der Stadt gesprochen, die dasselbe Interesse hatten: Bremer Unternehmenschefs, die für ihre Mitarbeitenden Kinderbetreuung wollten. Andere habe ich nach Gebäuden und Grundstücken gefragt, weil wir wussten, das dauert zu lange, wenn Bremen selbst baut. Am Ende haben wir es geschafft.
Ist es nicht frustrierend, dass es immer erst Geld gibt, wenn die Hütte brennt?
Das ist schon ein Mechanismus, ja. Für Bildung ist das Geld auch erst geflossen, als die negativen Bildungsvergleiche auf dem Tisch lagen. Ich hatte 2011 Kitas, die ich nicht eröffnen konnte, weil ich im Haushaltsnotlageland das Personal nicht bezahlen konnte. Das habe ich als sehr frustrierend empfunden. Ich wusste, da stehen jetzt Eltern, die sagen, „ich habe einen Job, ich könnte arbeiten gehen, wenn ich nur einen Betreuungsplatz hätte“. Stattdessen mussten sie weiter ins Jobcenter und Hilfen beantragen. Das fand und finde ich unlogisch.
Gibt es aktuell ein Thema, bei dem Sie sagen, da müsste man jetzt vorausschauend Politik betreiben?
Beim Klimawandel.
Das ist ja auch seit Jahrzehnten bekannt.
Klar, die Grünen reden da schon länger drüber. Wenn es alleine nach uns gehen würde, würden wir in Bremen mehr und schnellere Maßnahmen umsetzen. Die jüngeren Abgeordneten, die jetzt ins Parlament kommen, gerade bei uns Grünen, die drängen, die sehen das. Genauso wie meine Generation vor den Risiken der Atomkraft gewarnt hat und davor, dass man ein riesiges Problem hat mit der Endlagerung.
Die Politikerin
Als Anja Stahmann 2011 in den rot-grünen Bremer Senat gewählt wurde (bereits damals schon mit Stimmen der Opposition), war sie die erste grüne Sozialministerin Deutschlands. Wenn sie jetzt aufhört, hat niemand länger ein Sozialressort verantwortet. Zuvor hatte sie zwölf Jahre die Grünen in der Bremischen Bürgerschaft vertreten, erst als Sprecherin für Bildungs- und Medienpolitik, dann als stellvertretende Fraktionssprecherin.
Der Mensch
Anja Stahmann, 1967 in Bremerhaven geboren, studierte Sozialwissenschaften in Göttingen. Parallel machte sie eine Weiterbildung zur Theaterpädagogin und -therapeutin und fing 1992 in Bremen als Referentin bei der Naturfreundejugend an. Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Aber das will niemand hören, die Grünen waren Verlierer der Bremer Landtagswahl.
Ich glaube, in der Vermittlung unserer Politik haben wir Fehler gemacht. Wir haben die Leute oft vor den Kopf gestoßen und einen Klassenkampf ums Auto losgetreten. Es gibt einfach Menschen in Bremen, die das Auto brauchen, um zur Arbeit zu kommen.
Es gibt doch viel mehr Leute, die das Auto nicht brauchen – und trotzdem nicht drauf verzichten wollen.
Ja, da muss man eben dranbleiben und klarmachen, wie wir uns eine moderne Mobilitätspolitik vorstellen, die zum Ziel die Vermeidung von CO2 hat. Da muss man definieren, was man an welchen Stellen machen kann, was die größte CO2-Ersparnis bringt.
Sie betonen oft Ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen. Fremdeln Sie manchmal mit grünen Inhalten?
Nö.
Geschlechtergerechte Sprache, Veggieday?
Ich finde erhobene Zeigefinger immer schwierig. Ich setze eher darauf, Brücken zu bauen und gerade mit den Leuten zu reden, die eine ganz andere Meinung als ich haben.
Beim Streit um die Unterbringung von Geflüchteten ist Ihnen das nicht gelungen. Im ersten Pandemiejahr wurde Ihnen sogar unter anderem von der taz Rassismus vorgeworfen, weil die Menschen in den Massenunterkünften nicht vor Infektionen geschützt wurden. Am Ende ist die Situation so eskaliert, dass Sie zeitweise Polizeischutz bekommen haben.
Ich glaube, das war auch der Zeit geschuldet, alle waren sehr verunsichert, ich auch, und wir konnten nicht so schnell so viele Plätze außerhalb der Landesaufnahmestelle bereitstellen, wie wir das gerne gemacht hätten.
Aber die Konflikte gab es nicht nur während der Pandemie. Der Flüchtlingsrat lässt kein gutes Haar an Ihrer Arbeit. Warum ist die Verständigung gescheitert?
Das lag nicht an mir …
Sondern?
Ich wünschte, ich wüsste es. Ich vermute, es liegt an unterschiedlichen Handlungsebenen. Was man sich in der Flüchtlingspolitik wünscht und was in der praktischen Politik möglich ist, sind oft zwei Paar Schuh.
Das heißt, Sie haben das Gespräch gesucht?
Ja, immer wieder.
Sie haben eben die jungen Abgeordneten erwähnt, die jetzt ins Parlament kommen. Was raten Sie ihnen?
Bleib bei dir selbst, such nach Mitstreitern, gib anderen nicht zu verstehen, sie müssten nur noch begreifen, was du längst verstanden hast, weil du klüger bist. Das gilt für andere Politiker genauso wie für Bürger.
Braucht es eine hohe Frustrationstoleranz?
Ja, Politik ist Langstrecke.
Dickes Fell?
Auch.
Gibt es Ausschlusskriterien?
Wenn Leute sich selbst oder einen Sinn suchen, ist Politik der falsche Ort. Ich halte es für extrem hilfreich, in der Politik zu wissen, wer man ist, welche Werte man hat.
Die man ja selten eins zu eins durchsetzen kann, weil andere andere Ziele und Werte haben, zum Beispiel Koalitionspartner. 2015 sollten Sie auf Wunsch der SPD eine geschlossene Unterbringung für jugendliche Geflüchtete realisieren, gegen Ihre Überzeugung.
Nicht nur gegen meine, alle Fachleute hier im Haus waren dagegen. Das hatte der damalige Bürgermeister Jens Böhrnsen ins Gespräch gebracht. Klang ja auch erst mal nach einer eleganten Lösung des Problems, das wir eine Zeit hatten mit der erhöhten Jugendkriminalität auf der Straße. Nur inhaltlich und finanziell war das überhaupt nicht durchdacht. Das Rathaus hatte zu einer Pressekonferenz eingeladen, obwohl ich im Senat Einspruch erhoben hatte. Ich war kurz davor, dort nicht zu erscheinen, aber das hätte bedeutet, dass ich aus der Politik ausgestiegen wäre und nichts mehr hätte tun können, um das abzubiegen.
2017 wurde das Projekt beerdigt.
Es war ein beinharter Weg bis dahin. Wir haben zwei Jahre Argumente gesammelt, warum das keine gute Idee ist, und mussten alle mitnehmen.
Gab es andere Momente, bei denen Sie hinschmeißen wollten?
Nee, das war das einzige Mal. Wir sind hier ja nicht bei „wünsch dir was“. Optimale Lösungen gibt es faktisch nicht.
(Später erinnert sich Anja Stahmann an einen zweiten Moment. Der tödliche Paragliding-Unfall des SPD-Politikers Frank Pietrzok vor einem Jahr habe sie sehr getroffen. Sie kannten sich aus der Jugendarbeit und gingen zeitgleich in die Politik. „Da wollte ich einfach mal alles anhalten.“ Sie steht kurz auf, trocknet Tränen, und setzt das Interview fort.)
Waren Sie auch mal überrascht, wie viel möglich ist?
Ja, im Kleinen und im Großen. Manchmal war es eine größere Summe an Geld, die man im Senat erstritten hat. Wobei ich mich immer gewundert habe, dass über 10.000 Euro für ein soziales Projekt mit einer größeren Leidenschaft diskutiert wird als über 100 Millionen für Wirtschaft, Häfen oder Straßenbau. Wahrscheinlich weil man sich eher vorstellen kann, wie viel 10.000 Euro sind. Dabei bewegt man mit so wenig Geld manchmal wahnsinnig viel, gerade in Stadtteilen, wo Menschen auf Unterstützung angewiesen sind.
Sie sind mit drei vollen Legislaturperioden Deutschlands dienstälteste Sozialsenatorin, in Bremen waren nur wenige länger Regierungsmitglied als Sie. Macht Politik süchtig?
Ja, man kriegt ja schnell ein Feedback von Leuten.
Was meinen Sie damit?
Man muss höllisch aufpassen, diese vermeintliche Zuneigung und Aufmerksamkeit, die einem zuteil wird, nicht persönlich zu nehmen. Wichtig ist man nur, solange man Geld zu verteilen hat. Mein Pressesprecher sagt mir immer, „wenn dir jemand etwas Nettes sagt, dann bitte in das eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus“. Das ist auch wichtig, um sich nicht instrumentalisieren zu lassen. An der Spitze ist es einsam.
Woran haben Sie das gemerkt?
Das eine ist, dass andere Menschen plötzlich unsicher im Umgang werden und nicht wissen, wie sie einen ansprechen sollen. Und dann trifft man manchmal Entscheidungen, die man selbst für richtig hält, die aber andere überhaupt nicht gut finden und einen das spüren lassen.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Umverteilung von geflüchteten Jugendlichen auf andere Kommunen …
… Bremen hat in der Vergangenheit immer überdurchschnittlich viele aufgenommen.
Ja, aber wir konnten den Kinderschutz irgendwann nicht mehr gewährleisten, dafür haben wir weder das Personal noch die Räume oder die Schulplätze. Als ich das gesagt habe, haben mich auch in der Koalition einige erst mal angestarrt, als hätte ich sie nicht mehr alle.
Jetzt geben Sie die Macht ab, Sie wollen weder Amt noch Mandat antreten.
Ich hatte das Wahlergebnis gesehen und wusste, minus 5,5 Prozent bedeuten für die Grünen, einen von drei Senatoren abgeben zu müssen.
Hatten Sie sich vor der Wahl überlegt abzutreten, wenn die Grünen verlieren?
Nein, sonst wäre ich gar nicht angetreten. So bin ich nicht.
Sie haben den Verzicht zwei Wochen nach der Wahl bekannt gegeben, anders als die Spitzenkandidatin, die am nächsten Tag gesagt hat, nicht mehr als Umweltsenatorin zur Verfügung zu stehen.
Ich habe jeden Abend darüber nachgedacht, das ging hin und her. „Du kannst doch jetzt nicht aufhören, die brauchen dich! Wer hat denn so viel Erfahrung? Die anderen hauen die übers Ohr, die haben doch noch nie verhandelt!“ Man hält sich ja für unersetzlich. Auf der anderen Seite habe ich die ganzen Leute gesehen, die nicht ins Parlament gekommen sind, und ich habe daran gedacht, wie viel es für mich biografisch bedeutet hat, dieses Ticket zu lösen, Abgeordnete zu werden. Für die wollte ich den Weg frei machen.
Sie haben mit niemand darüber gesprochen?
Doch. Aber man darf sich nicht bequatschen lassen. Man geht da alleine durch. Das Reingehen in die Politik ist ein Prozess, das Rausgehen auch.
Wer hat es als Erstes erfahren?
Mein Mann. Der hat – wie immer – gesagt, „wenn du das wirklich machen willst, unterstütze ich dich“. Ich glaube, er hat ein bisschen Angst, dass ich jetzt nachmittags um drei anrufe und sage, „ich habe frei, was machst du?“.
Waren Sie erleichtert, als Sie die Entscheidung getroffen haben?
Ich schlafe besser. Das hat aber ein paar Tage gedauert.
Haben Sie Angst vor dem, was jetzt kommt?
Ja. Das ist genauso mutig wie damals, als ich in die Politik gegangen bin. Aber ich freue mich auch und bin gespannt, was das Amt mit mir gemacht hat und was davon jetzt nach außen dringt.
Was machen Sie als Nächstes?
Das wird die erste große Challenge sein. Stille aushalten, nichts tun, einfach da sein, nichts wollen. Das fällt mir unglaublich schwer.
Was würde die Anja Stahmann, die 1999 Abgeordnete wurde, Ihnen jetzt sagen?
Die hat ja damals gesagt, nach einer Legislatur höre ich auf … Ich glaube, sie wäre stolz.
Und was würden Sie ihr sagen?
Danke.
Wofür?
Fürs Kämpfen, fürs Durchhalten, für eine gewisse Form der Unermüdlichkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles