Bremer Landespolitik wird brutaler: Erstmals Roma abgeschoben
In Bremen reisen diese Woche zwei Roma-Familien in ihr angeblich sicheres Herkunftsland Serbien aus – eine Familie „freiwillig“, eine andere unter Zwang
Der Asylantrag von Anfang Januar sei im April endgültig abgelehnt worden, auch eine Duldung sei nicht mehr infrage gekommen, so Müller. Und das, obwohl die 36-jährige Mutter nach einem Suizidversuch im Mai für zwei Wochen im Klinikum Bremen Ost behandelt werden musste, wie Müller berichtet. Auch eine Abhängigkeit von Psychopharmaka sei ärztlich festgestellt worden – ein Abschiebehindernis sei das allerdings nicht.
„Eine absolute Kehrtwende in der Bremer Landespolitik“ nennt diesen Vorgang Marc Millies vom Bremer Flüchtlingsrat. „Bremen hat immer gesagt, die Leute sollen nicht zwangsweise abgeschoben werden.“ Stattdessen sei hier auf die sogenannte „freiwillige“ Ausreise gesetzt worden, die in etwa so funktioniere: In Gesprächen werde den Menschen so nachdrücklich klargemacht, dass sie keine Chance auf Asyl in Deutschland haben, dass sie schließlich „freiwillig“ ihre Koffer packen. Das Rückflugticket und ein Handgeld gibt’s dazu.
Der Hintergrund: Seit der Bund 2014 und 2015 alle Westbalkanstaaten zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt hat, nimmt die Zahl der Abschiebungen rasant zu. Das belegen für Bremen auch die aktuellen Zahlen aus dem Innenressort: Zwischen November 2014 und Ende August 2016 gab es im Land Bremen insgesamt 74 Abschiebungen – davon entfallen allein 55 auf die ersten acht Monate dieses Jahres.
Die meisten von ihnen betrafen Menschen aus den Westbalkanstaaten. Die Sprecherin von Innensenator Ulrich Mäurer (SPD), Rose Gerdt-Schiffler erklärt: „Nach der Anerkennung der Westbalkanstaaten als sichere Herkunftsländer kommt jetzt ein ganzer Schwung an Verfahren vom BAMF zurück.“ Die Zahl der Abschiebungen werde daher voraussichtlich auch weiter steigen.
Das sagt auch Thorsten Müller, der Anwalt von Familie A.: Auch er habe weitere Mandanten, deren Asylantrag endgültig abgelehnt wurde: „Wir müssen in jedem Fall damit rechnen, dass die Ausländerbehörde jetzt nicht mehr nur bellt, sondern auch beißt.“
Während es zumindest für Abschiebungen in den Kosovo noch den gleichnamigen Erlass gibt, wonach die Behörden geplante Abschiebungen dem Innensenator melden müssen, gilt das für Serbien nicht – obwohl die Bedingungen für Roma sich dort nicht wesentlich unterscheiden. Nach übereinstimmenden Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind ethnische Minderheiten in allen Westbalkanstaaten nach wie vor diskriminiert und vor Übergriffen nicht geschützt. Die gesellschaftliche Teilhabe ist stark eingeschränkt, die Bildungschancen und die Gesundheitsversorgung sind vor allem für Roma schlecht.
Marc Millies, Flüchtlingsrat Bremen
„Den Kosovo-Erlass kann man nur aus der Historie erklären“, sagt Rose Gerdt-Schiffler. „Der Erlass stammt aus der Zeit, als der Kosovo sich gerade von Serbien abgespalten hatte und die politischen Verhältnisse dort besonders instabil waren.“ Einen Abschiebestopp habe es ohnehin nie gegeben, nur eine Meldepflicht für Abschiebungen dorthin mit der Möglichkeit, einzelne Härtefälle noch einmal durch den Senator prüfen zu lassen.
Eine weitere Roma-Familie, die seit zwei Jahren in Bremen lebt, soll in dieser Woche „freiwillig“ nach Serbien ausreisen. Dagegen regt sich jetzt Protest: SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen der Gesamtschule Mitte, wo eine Tochter der betroffenen Familie zur Schule geht, wollen am heutigen Dienstag um 15.30 Uhr über 500 Postkarten an Innensenator Mäurer übergeben. Darauf haben sie notiert, warum sie nicht wollen, dass ihre Mitschülerin abgeschoben werden. Lehrer und Mitorganisator des Protests Niels Kalin erklärt: „Alle Kinder haben das Recht, in einer sicheren Umgebung ohne Diskriminierung zu leben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern