Bremer Baumwollbörse: Eine verwickelte Geschichte
Die Bremer Baumwollbörse feiert 150-jähriges Bestehen. Sie ist eine einzigartige Institution – und auch in Kolonial- und Kriegsverbrechen verstrickt.
W ie bereitet man die Plünderung eroberter Länder vor? Man braucht erstens entsprechende Infrastruktur, zweitens gute Beziehungen zum Kriegsherrn und drittens ein verlässliches Netzwerk aus Komplizen. Als es darum geht, sich die ukrainischen Baumwollfelder und die sowjetischen Entkörnungsanlagen unter den Nagel zu reißen und sie so richtig auszubeuten, findet sich 1941 all das in Bremen. Und zwar dank der Baumwollbörse.
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Das ist – die Ukraine-Episode wird noch fortgesetzt – eine einzigartige Institution. Sie wurde vor 150 Jahren am 24. September 1872 von dortigen Importeuren als „Comité für den Bremer Baumwollhandel“ gegründet, um die eigene Vormachtstellung als Umschlag- und Handelsplatz zu stärken.
Erfolg stellt sich ein: Zur Jahrhundertschwelle sind schon die Spinnereiverbände sowie die österreichische und die Schweizer Baumwollindustrie Mitglieder des Vereins. Man wird europäisch, nennt sich jetzt Börse, und weil, wer Rohstoffe klassiert, sie zurechtmacht für einen finanzkapitalistischen Markt, steigt man ab 1914 wirklich in den Handel mit Terminkontrakten ein.
Die verwickelte Geschichte der Bremer Baumwollbörse ist indes noch weitgehend unerforscht. Und dort, wo sie präsentiert wird, weist sie Lücken auf, als hätten Motten sie befallen. Dabei mögen die gar keine Baumwolle.
Die Börse
Am 24. September 1872 gründeten Baumwollimporteure das „Comité für den Bremer Baumwollhandel“. Ab 1877 firmiert es als „Bremer Verein Baumwollbörse“, dem der Senat 1889 die Rechtsfähigkeit verleiht. Seit 1902 hat er seinen Sitz in der Wachtstraße 17–24. Ab 1894 werden jährlich mehr als eine Million, im Jahr 1912 sogar 2,8 Millionen Ballen in Bremen umgeschlagen, rund 644.000 Tonnen. Das ist das knapp 26-Fache des aktuellen Werts.
Das Programm
Zum Programm der 36. Internationalen Baumwollkonferenz (29./30. September) gehört außer Vorträgen auch ein Geburtstagsdinner. Mit der Ausstellung „100 % Baumwolle“ zeichnet ab 1. Oktober das Bremer Überseemuseum die Kulturgeschichte der Gattung Gossypium nach, die seit 5.000 Jahren und auf vier Kontinenten angebaut wird, um ihre Samenhaare zu verspinnen.
Auch in der neuen Festschrift zum 150-Jährigen. Die Ukraine-Episode etwa fehlt. „Der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion beendet jäh frühere Versuche einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit“, steht da nur. Stattdessen gibt’s ein Grußwort des Landesvaters Andreas Bovenschulte: „Ohne Bremen läuft im Baumwollhandel nichts“, schreibt der Sozialdemokrat darin mit jener Dorfbürgermeisterrhetorik, von der man nie so genau weiß, ob sie einen Minderwertigkeitskomplex ausdrückt – oder echte Minderwertigkeit. Denn groß ist ja der Bedeutungsverlust Bremens.
Zum Flecken geschrumpft
Spätestens als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Faserimport einbrach, an dem in der Hochphase 60 Prozent ihrer Arbeitsplätze hingen, war die Hansestadt auf der Landkarte des globalen Handels zum Flecken geschrumpft: Mensch, und man war doch mal die globale Nummer zwei gewesen beim wichtigsten Rohstoff der Welt, gleich nach Liverpool! Hach, und einen Kaiser hatten wir da auch. Und Kolonien.
Die galten als Möglichkeit, das Deutsche Reich „im Rohstoffbezuge nach und nach unabhängiger vom Auslande zu machen“, heißt es im „Deutschen Koloniallexikon“, Stichwort Baumwolle. Ab 1901 fördert die Bremer Baumwollbörse entsprechende Vorhaben des Kolonialwirtschaftlichen Komitees, offenbar mit 10.000 Reichsmark per annum, das sind anderthalb Prozent der jährlichen Ausgaben des Vereins.
Wie stark sie in Ostafrika involviert war, wo der Protest gegen die Baumwollzwangsarbeit den Maji-Maji-Krieg ausgelöst hat, harrt der Klärung. Aber „in Togo war die Baumwollbörse Akteur“, sagt Annika Bärwald, Historikerin, die mittlerweile in Ecuador lebt. In Togo sollten großen Baumwollplantagen entstehen.
Bärwald hat während des Studiums in Bremen zu diesem Thema geforscht und veröffentlicht. „Die Baumwollbörse hat dieses Vorhaben offensiv betrieben.“ Noch eine Lücke im Jubelbuch. Noch eine Lücke im öffentlichen Gedächtnis. Und wer soll die schließen? Radio Bremen betraut mit dem TV-Beitrag zum Jubiläum einen ausgewiesenen Werbefilmer. Im Weser-Kurier steht, dass Bremen in der Branche einen guten Ruf genieße. Wer will da noch mehr wissen?
Maimuna Sallah, Literaturwissenschaftlerin, Mitglied im Team der Arbeitsstelle gegen Diskriminierung und Gewalt an der Bremer Uni und politisch in einer Gruppe aktiv, die sich Blacktivity nennt, erkennt darin ein grundsätzliches Problem: „Der Konflikt von Bremen“, sagt sie, „ist, dass es sich zwar Mühe gibt, sich in der gegenwärtigen Diskussion über rassistische Ideologien mit kolonialer Vergangenheit auseinanderzusetzen, dass sich die Stadt dafür aber eingestehen müsste, dass ihr Reichtum auf genau diesem Leid beruht.“ Stattdessen feiert man diesen Reichtum, rühmt sich seiner, ist stolz drauf, trauert ihm nach. Verharrt in den Strukturen, die er geschaffen hat.
Geschönte Bilder
Das war der Grund, wieso Sallah überhaupt mit der Baumwollbörse aneinandergeriet. Die war nie ihr Thema gewesen, bevor die Börse zum World Cotton Day 2020 ein Megaplakat an ihrer Fassade aufgehängt hat. Gleich neben der Fassadenplastik eines dürftig geschürzten Manns – den rassistische Klischees als Schwarzen ausweisen und der, erfüllt vom Glück, dienen zu dürfen, einer gemeißelten Göttin mit langem glattem Haar einen Ballen Baumwolle darbringt – hing, überlebensgroß, das Foto eines tansanischen Arbeiters, der, einen riesigen Haufen frisch gepflückter Baumwolle in den Armen, vor Freude nur so strahlt. Ein fröhlicher Landmann.
„Das Bildmotiv hat viele empört und verletzt“, erläutert Sallah, warum sie damals protestiert hat. In der Baumwollbörse fühlte man sich unverstanden, tut es noch immer. Wahrscheinlicher aber ist, dass man zu genau verstanden worden war. Denn die Intention der Kampagne sei ja gewesen, „der Bevölkerung nahezubringen, dass Baumwolle ernährt“, wie die ehrenamtliche Präsidentin Stephanie Silber resümiert, dass also „150 Millionen Menschen weltweit“ mit ihr Geld verdienen. Und wenn man das auf Wunsch der afrikanischen „Cotton Four“ – Benin, Burkina Faso, Tschad und Mali – abbilde, soll das „ein Problem“ sein? Schwer einzusehen findet sie das.
Aber genau auf die „neokolonialen Abhängigkeiten bei der Produktion im Globalen Süden“ hatte die Kritik ja gezielt. Das Bild habe beschönigt, dass in der Folge des Kolonialismus statt für den eigenen Bedarf für Europa produziert wird, so Sallah. Es gehe in Wirklichkeit um Ausbeutung der Ressourcen. Das Foto zeige das Gegenteil: „Das Framing ist: Wir geben denen Arbeit.“
Am Bremer Handelsregister lässt sich der Niedergang der Branche gut ablesen: Es kennt 19 Firmen, die Baumwolle im Namen führen. Von denen tragen 16 heute den Vermerk „gelöscht“. Umorientiert hat sich die Baumwollbörse. Futures und Bonds werden in New York gehandelt, die Terminbörse in Bremen hat man 1971 dichtgemacht, aber damit kann man ja leben. Weil man schon von Anfang an ein Gutachterverfahren entwickelt habe – eine Arbitrage, so nennt man in der Branche das Baumwolltestverfahren – mit wirklich ausgetüfteltem Neutralitätskonzept, habe man sich als das „weltweite Zentrum für Qualitätsfragen“ positionieren können, erläutert Börsen-Präsidentin Silber. Der Fokus habe sich halt verlagert, resümiert sie mit pragmatischer Gelassenheit. „Damals war es Baumwolle, die nach Bremen kam. Jetzt bekommen wir Baumwollproben aus der ganzen Welt und müssen dazu Stellung nehmen“, sagt sie und öffnet die Tür zum Arbitrageraum.
Der ist fast enttäuschend schlicht: Auf zwei Reihen Tischen mit Kunststoffplatten liegen, jeweils durch Packpapier getrennt, Lagen von weißlichen Wuscheln.
Die Proben bleiben hier 24 Stunden ausgebreitet, beleuchtet von Neonröhren „mit standardisiertem Licht“, wie Silber durchs Dröhnen einer Klimaanlage hindurch präzisiert. Karsten Fröse, Baumwollprüfer, führt vor, wie das geht, Baumwolle klassieren: Er rupft aus einer der Baumwolllagen mit Daumen und Zeigefingern ein Stückchen Weiß. Das kämmt er dann mit dem Daumen. Parallelisieren heißt das. Danach lässt sich die Länge der Faser bestimmen, 1 1/8 Zoll, sieht Fröse sofort, misst nach. Stimmt.
Über so eine ausgekämmte Flocke zu streichen ist ein ganz eigenes Gefühl. Diese rohe Faser ist so glatt, dass man meint, ihre Weichheit im Inneren des Fingers zu spüren, ein geradezu invasives Schmiegen und Kitzeln, unendlich zart. Standardisierung ist ein sinnliches Geschäft.
Die Börse feiert in diesem Jahr auch, dass ihr wuchtiger Repräsentativbau vor 120 Jahren eingeweiht wurde. Er verrät viel übers Selbstbild der Börsianer: innen eine avantgardistische Stahlkonstruktion mit radikal moderner Technik, also sieben Aufzügen, eigener Dampfmaschine für deren Betrieb und elektrischem Licht sowie Warmwasserheizung; eine zweckmäßige Lichtregie, die Fenster nach Norden und Nordwesten; nach außen eine reaktionäre Sandsteinfassade, deren neobarocker Schmuck blöderweise schon bald zu bröckeln beginnt.
Der Standort vis-à-vis vom Dom, mächtiger als die Handelskammer, das Rathaus weit überragend, ist selbst ein Statement: Hier ist die Baumwolle, die Königin. In den Büros mietet sich ein, wer etwas zählen will im Faserhandel. Das Haus ist Treffpunkt, ein Ort, um Geschäfte zu machen, sich zu beraten, gleich am Markt, im Herzen der Stadt.
Dort also gründet, um den Ukraine-Faden wieder aufzunehmen, die Crème de la Crème bremischer Baumwollimporteure am Abend des 17. November 1941 gemeinsam mit süddeutschen Spinnereibesitzern, Bremer Senatoren, auch den unerlässlichen Repräsentanten Hamburgs, Vertretern des NS-Staats und hochrangigen Deutsche-Bank-Funktionären die Baumwoll-Aktiengesellschaft, kurz Baumag. Zeitungen im ganzen Reich bejubeln, dass sie sich „in erster Linie dem Baumwollanbau und seiner Förderung im Rahmen der neuen Ostplanung widmen“ werde. Ein Coup, geheim vorbereitet schon länger: Wie Historiker Karsten Linne schreibt, war bereits am 13. Juni, also neun Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion, ein Vorstandsmitglied der Bremer Baumwollbörse im Außenpolitischen Amt der NSDAP in den Plan eingeweiht worden, „wie die Wirtschaft der zu erobernden sowjetischen Gebiete übernommen und sie zu einem ‚Kolonialstaat‘ degradiert werden sollten“, und zwar mithilfe einer „großen Textilgesellschaft“. In Bremen kommuniziert der gute Mann dann den bewährten Mitstreitern die Einsicht, dass man da wohl mitmachen müsse. Denn sonst täte es am Ende jemand anderes. Und dann? Wie es Kaufleuten halt immer geht, in Gewissensfragen.
Hier mal keine Namen. Es wären zu viele. Und jenseits von Bremen, wo Straßen nach ihnen heißen und Plätze, sagen die beteiligten Herren niemandem etwas. Sie zu nennen würde nur langweilen. Mehrere dieser Heroen des Handels sind mit Südstaatenkriegshelden verschwägert, mit Plantagenbesitzern und Sklavenhaltern. Bremer Baumwolldynastien haben Ministerpräsidenten hervorgebracht und EU-Kommissionspräsidentinnen. Einige dieser Männer haben Streitschriften verfasst in den 1920ern, um den Bedarf an Kolonien zu betonen.
26 Männerköpfe in grimmigem Schwarz-Weiß zeigt die Porträtgalerie der Baumwollpräsidenten, 15 in Farbe – und dann ist da die Frontalaufnahme von Stephanie Silber, freundliche Augen, offenes Lächeln. „Ich bin die erste Frau“, sagt sie bei der Führung durchs Haus, auf den Männerladen angesprochen, dem sie seit 2020 vorsteht. Silber, immerhin Geschäftsführerin von Deutschlands größtem Baumwollhändler, wirkt zurückhaltend, entspricht nicht so dem Bild der harten Businessfrau. Ihre Präsidentschaft ist das sichtbarste Zeichen für den Wandel der Institution. Mit der ehemaligen Konkurrenz aus Liverpool kooperiert man mittlerweile. Indem man das Bündnis für nachhaltige Textilien mitgegründet hat, hat man sich öffentlich im politischen Prozess positioniert, was früher vermieden wurde.
Weltweit Beachtung finden Forschungsergebnisse des Faserinstituts, einer Art gemeinsamer Tochter mit der Uni Bremen, etwa zum Recycling von Mischgeweben. Hochproblematische Sache das, weil: Baumwolle allein, organisches Produkt, ist letztlich kompostierbar. Aber sobald du für Socken oder für Jogginghosen Erdölgarne reinwebst, wird das Sondermüll, mit Mikroplastikemissionen. Relevante Forschung also, denn Fasern sind überall, zumal Baumwolle, auch wo kaum jemand sie vermutet: Immer wenn du Sprengstoff benutzt – Baumwolle. Wer Wurst isst – Baumwolle. Papiergeld – Baumwolle. Unser aller Leben ist schon lange verstrickt in die Welt der Baumwolle, mit all ihren Problemen, ihren Potenzialen, mit ihren guten Taten. Und ihren Verbrechen.
Gutwillig kann man sagen: Bei der Baumwollbörse sind sie darum bemüht, den Umgang mit diesen Verbrechen zu lernen. So thematisiert der neue Bildband, anders als frühere Jubiläumsschriften, die Versklavung Schwarzer Menschen im Cotton Belt. Was die eigene Rolle im Kolonialismus angeht, ist man indes noch zurückhaltend. „Das war sehr klein“, wiederholt Börsensprecherin Elke Hortmeyer einen gängigen Bagatellisierungstopos. Das Handelsvolumen seien ja nur „einige wenige Tonnen“ gewesen. Als würden Verbrechen irrelevant, wenn der Täter nicht genügend profitiert hat.
Die ab 1901 maßgeblich von Bremen aus betriebene Togo-Expedition ist ein echtes Datum in der Weltgeschichte der Baumwolle. Auf Bremen bezogen kann sie als Urbild des Baumag-Abenteuers in der Ukraine gelten. Globalhistoriker Sven Beckert bespricht sie in seinem Werk „King Cotton“ (2014) ausführlich. Angela Zimmerman, Professorin an der George Washington University, hatte sie schon 2010 ins Zentrum ihres Buchs über den deutschen Imperialismus gerückt. Denn ihre Folgen reichen weit: Zerstört worden seien „die lokalen Märkte, zerstört worden ist der kleinbäuerliche Anbau, der in den Händen von Frauen war und zu sehr hochwertigen Produkten fürs Binnenland geführt hatte“, fasst die Bremer Historikern Annika Bärwald zusammen. Ersetzt wurde das laut Zimmerman durch eine patriarchale Ordnung und die Forderung, für den Export zu produzieren. Beides besteht fort.
Nachhaltigkeit, das ist das Schlagwort, mit dem die Baumwollbörse sich zukunftsfähig zu machen versucht, was gut klingt. Aber, betont Bärwald: In dem Diskurs lässt sich auch ein Nachhall des Kolonialismus vernehmen. „Die Vorstellung, dass man hier weiß, wie effektiver Anbau funktioniert, und es denen dort beibringt, die gab es damals schon.“ Auch könne die Fokussierung auf Umweltverträglichkeit die Frage nach der Vergangenheit zudecken, warnt sie.
Maimuna Sallah, Blacktivity
Den Eindruck hat auch Maimuna Sallah. Im Umgang mit der eigenen Vergangenheit müsse die Baumwollbörse „nachhaltige Veränderung“ an den Tag legen, fordert, sie. „Die Bereitschaft zu sehen, in welcher Kontinuität die Baumwolle steht, das wäre wichtig.“ Forschung, eine Art Fellowship, jemandem aus den betroffenen Gebieten zu ermöglichen, hier zu arbeiten, vielleicht um die Verstrickungen der Baumwollbörse ins koloniale Unrecht zu untersuchen – das könnte ein Anfang sein.
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