Brasilien am Welternährungstag: Der politische Wille war da
Erstmals konnte die UNO Brasilien von der Welthungerkarte streichen. Dazu verhalf dem südamerikanischen Land der Wirtschaftsaufschwung.
RIO DE JANEIRO taz | Mittagessen im städtischen Kindergarten von Camamu. Die vielleicht 90 Kinder machen einen Heidenlärm, es ist eng an den langen, niedrigen Tischen im Speisesaal. Es gibt gekochtes Gemüse, dazu je ein Stückchen Huhn und frisches Obst zum Nachtisch.
Schulspeisung ist nichts Neues in Brasilien: „Die gab es schon, als ich klein war“, sagt die Leiterin Almiraci Silva. Allerdings hat sich inzwischen vieles verändert: Das staatliche Förderprogramm PNAE wurde neu organisisert, es ist mehr Geld da und eine größere Auswahl an Lebensmitteln. Vor fünf Jahren legte die Regierung gesetzlich fest, dass 30 Prozent der Nahrungsmittel für die Kindergärten aus der kleinbäuerlichen Landwirtschaft stammen müssen. „Damit hat die Qualität der Ernährung einen richtigen Sprung gemacht“, sagt die 44-jährige Pädagogin.
Camamu ist eine Kleinstadt im Bundesstaat Bahia im armen Nordosten des Landes. Großgrundbesitz ist hier weit verbreitet, die Einkommen sind extrem ungleich verteilt. Bis vor wenigen Jahren gehörte der Hunger in vielen Gemeinden zum Alltag.
Zum Welternährungstag am Donnerstag endlich mal eine gute Nachricht: Die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, ist stark gefallen. Nach Schätzungen der UN-Agrar- und -Ernährungsorganisation FAO sind es heute 209 Millionen weniger als noch Anfang der neunziger Jahre. Auch der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung nahm ab: von 18,7 auf 11,3 Prozent.
Aber: Immer noch haben 805 Millionen Menschen zu wenig zu essen, um gesund und aktiv zu leben. Die FAO-Zahlen sind allerdings umstritten. Die Organisation errechnet sie aus dem Kalorienbedarf und den verfügbaren Kalorien in den jeweiligen Ländern. Der Menschenrechtsverband Fian etwa bemängelt, dass der Kalorienverbrauch sehr niedrig angesetzt sei und einem „bewegungsarmen Lebensstil" entspreche - was gerade bei Armen selten der Fall sei. Doch selbst Fian-Agrarreferent Roman Herre bestreitet auf taz-Nachfrage nicht, dass heute weniger Menschen hungern.
Auch nach den FAO-Zahlen hungert immer noch jeder neunte Mensch. In Afrika ist die absolute Zahl der Betroffenen sogar um fast ein Viertel auf 226,7 Millionen gestiegen, das sind 20,5 Prozent der Bevölkerung.
Die Schulspeisung ist nur eines der staatlichen Programme zur Ernährungssicherung in Brasilien, ein anderes richtet sich etwa an Menschen ohne feste Einkommen: In Camamu und Umgebung sind es meist Kirchengemeinden, die Gemüse und Obst an Bedürftige verteilen. Für Carlos Eduardo de Souza von der Organisation Sasop, die in Bahia Kleinbauern unterstützt und ökologischen Landbau fördert, ist staatliche Finanzierung von Lebensmitteln nur der Anfang: „Nachhaltig sind solche Sozialprogramme erst, wenn auch die lokale Produktion von Agrarprodukten gefördert wird“, sagt er.
Dabei hat man aus Fehlern gelernt: Früher kauften und verteilten die Behörden nur industriell gefertigte Nahrungsmittel, sodass oft sogar Bauern auf Hilfen angewiesen waren, um nicht zu hungern. Langjährige Lobbyarbeit und der Aufbau von Kooperativen waren nötig, bis Produkte aus der Region in die Verteilungsprogramme aufgenommen wurden. „Durch die staatlichen Abnahmegarantien sichern die Bauern ihre Existenz und liefern den Bedürftigen zugleich gesündere Lebensmittel“, erklärt de Souza.
Brasilien gilt als Erfolgsgeschichte: Mitte dieses Jahres strich die UNO das Schwellenland erstmals von der Welthunger-Landkarte. Darüber hinaus sank die Zahl jener, die nicht genug zu essen haben, im gesamten Subkontinent Lateinamerika schneller als in Afrika oder Asien. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO liegt der Anteil der Unterernährten in Lateinamerika heute bei 6,1 Prozent der Bevölkerung – vor 15 Jahren war er doppelt so hoch.
Weniger eindeutig als die Zahlen sind die Gründe für diese Entwicklung. Fraglos hat der jahrelange Wirtschaftsaufschwung samt der hohen Preise für lateinamerikanische Rohstoffexporte bis zur Finanzkrise 2008 eine Rolle gespielt. Ausschlaggebend war aber, so sagt Soziologieprofessor Orlando dos Santos von der bundesstaatlichen Universität in Rio de Janeiro, der politische Wille: „Der Kampf gegen Hunger und Armut ist immer eine politische Entscheidung“, sagt er. „Eine Regierung muss dies wollen und die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen, was auch immer zugleich ein Umverteilungsprozess ist.“
Nach den vornehmlich neoliberalen 90er Jahren rückten die eher linken Regierungen in Ländern wie Venezuela, Bolivien, Ecuador oder Brasilien die Sozialpolitik in den Mittelpunkt: „Da die Armutsbekämpfung erfolgreich war, sahen sich auch konservative Regierungen wie in Kolumbien oder Peru gezwungen, Sozialprogrammen Priorität einzuräumen“, sagt dos Santos.
Am wichtigsten bleibt es, Arbeitsplätze zu schaffen
Zwar ist, wie er einräumt, jede Sozialhilfe „zu einem gewissen Maß nur lindernd, ohne die Ursachen der Not zu verändern.“ Wichtig aber sei, dass Hilfe Teil einer Politik ist, die Einkommen und Selbständigkeit schafft: „Kaum ein Land seit der Jahrtausendwende hat so viele Arbeitsplätze geschaffen wie Brasilien. Auch die Einkommen und vor allem der Mindestlohn sind kräftig gestiegen.“
Das legendäre Null-Hunger-Programm, das Brasiliens erster linker Präsident Lula 2003 schuf, gibt es schon lange nicht mehr. Es ist in das sogenannte Familienstipendium „Bolsa Família“ übergegangen: eine Vielzahl von verschiedenen Sozialleistungen, die spezifischen Bevölkerungsgruppen zustehen. In fast jedem Dorf oder Stadtteil gibt es jene staatlichen Büros, in denen die Hilfe beantragt werden kann. Große Plakate klären die Menschen auf, jede Neuerung wird verkündet.
Mit zunehmendem Wohlstand – die Armut ist in Brasilien laut FAO seit 2001 um zwei Drittel gesunken – ändern sich auch die Bedürfnisse. Rentner können inzwischen Krankengymnastik oder Hydromassagen beantragen, für Kinder gibt es weiterbildende Kurse, die viele Schulen nicht anbieten.
Wie erfolgreich die Sozialprogramme sind, zeigt sich nicht zuletzt im brasilianischen Wahlkampf. Die Regierung präsentiert sie als wichtigstes Argument für Kontinuität, die rechte Opposition beteuert, sie wolle das Familienstipendium keinesfalls abschaffen, sondern sogar ausbauen.
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