Brasilianische Fans im Widerstand: Die Fußball-Demokratie
Pyros und Rauchbomben für die politische Sache: In São Paulo führen die Fans des Kultklubs Corinthians die Proteste gegen Präsident Jair Bolsonaro an.
Seit Wochen gehen Unterstützer*innen des ultrarechten Präsidenten Bolsonaro auf die Straße. Neben dem Ende der coronabedingten Beschränkungen fordern einige auch die Schließung des Parlaments und eine Militärintervention. So auch an diesem Sonntag in São Paulo. Doch diesmal sind die Rechten weit in der Unterzahl. Das liegt daran, dass sich Fans der vier großen Fußballvereine der Stadt – die eigentlich miteinander verfeindet sind – zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel: den rechten Aufmarsch verhindern.
„Es ist surreal, was gerade in Brasilien passiert. Mit Bolsonaro droht ernsthaft eine Rückkehr zur Diktatur“, sagt Malfitani. 1969 gründete er die mächtige Ultra-Gruppe „Gaviões da Fiel“ (Treue Falken) mit. In dieser Zeit herrschte eine brutale Militärdiktatur in Brasilien. Hunderte Menschen wurden ermordet, Tausende gefoltert, verfolgt und ins Exil getrieben.
Während der Militärdiktatur kämpfte der Verein Corinthians gegen die rechten Generäle – in der Kurve und auf dem Platz. Bekanntestes Gesicht dieser Bewegung war Sócrates, Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft und Anhänger marxistischer Ideen. Mit der Ernennung des linken Soziologen Adílson Alves zum Sportdirektor startete ein einmaliges Experiment im brasilianischen Fußball: die „democracia corinthiana“, die Corinthians-Demokratie. „Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Vereinsführung beteiligt.“ So beschrieb Fußballrebell Sócrates das Experiment. Jeder hatte eine Stimme, vom einfachsten Angestellten bis zum Superstar.
Kampf gegen die Diktatur
Auch an diesem Sonntag in São Paulo sieht man etliche Banner und T-Shirts mit dem Porträt des linken Kickers. Der Verein wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition. Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschaften gegen die Diktatur, die Ultras protestierten in der Kurve gegen das Regimes. „So wie wir damals für die Demokratie gekämpft haben, müssen wir das heute wieder tun“, sagt Malfitani.
Die Ultras vom Weltpokalsieger Corinthians aus dem Osten von São Paulo sind tonangebend bei den Protesten gegen Bolsonaro. Allerdings versammeln sich auch Fans der drei anderen großen Vereine – São Paulo, Palmeiras und Santos – sowie Ultras kleinerer Favela-Clubs. „Heute zählt die Vereinsfarbe nicht“, sagt der komplett in Grün gekleidete Palmeiras-Fan Samiquel. „Wir stellen uns gemeinsam den Rechten entgegen.“
Diese haben sich in Sichtweite der Fußballfans, in die Nationalfarben gehüllt, versammelt. Mehrere Rechte präsentieren Fahnen von Neonazi-Gruppen, unter anderem des rechtsextremen ukrainischen Prawyj Sektor. Am Nachmittag eskaliert die Lage. Die antifaschistischen Fußballfans hätten versucht, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen und an die Rechten heranzukommen, heißt es. Linke erklärten, die Rechten hätten provoziert. Eine wilde Straßenschlacht entwickelte sich in der Folge: Die Polizei schießt mit Tränengas und Schockgranaten, die Fußballfans erwiderten es mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern.
An den Sprechchören der überwiegend jungen, nicht-weißen Ultras wird deutlich, dass es an diesem Tag aber nicht nur um die Verhinderung des rechten Aufmarsches geht. Der Frust über die tägliche Polizeigewalt, Ausgrenzung und hoffnungslose Situation im Land ist groß. Der Beginn einer Bewegung?
Der Zusammenschluss der eigentlich verfeindeten Fans ist historisch in Brasilien. In den vergangenen Jahren scherten sich die Fanszenen des größten Landes Lateinamerikas wenig um Politik und sorgten eher durch gewaltsame Ausschreitungen für Aufmerksamkeit. Seit der Wahl von Bolsonaro haben sich jedoch viele Fans wieder politisiert. Der rechtsradikale Präsident genießt allerdings auch unter Fußballfans Unterstützung. Einige Ultra-Gruppen erklärten, Bolsonaro zwar nicht zu unterstützen, sich aber nicht an Protesten beteiligen zu wollen.
Dennoch: Die Fußballfans haben geschafft, was der Linken nicht gelungen ist – eine lautstarke Protestbewegung gegen Bolsonaro aufzubauen. Auch in anderen Städten gingen am Sonntag Fußballfans verschiedener Vereine gemeinsam auf die Straße. „Wenn die Linke nichts macht“, sagt Ultra-Oldie Malfitani, „übernehmen wir Fußballfans das halt.“ Am kommenden Wochenende sollen wieder Proteste von Bewunderern der Diktatur stattfinden. Auch Malfitani und seine Ultras wollen dann wieder auf die Straße gehen – und den Rechten den Tag vermiesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn