Borussia Dortmund vor dem CL-Finale: Deutscher Fußball, neu erfunden
Jürgen Klopp verbindet in Dortmund die physische Stärke mit einem taktisch anspruchsvollen System. Eine Innovation, der viele nacheifern wollen.
Wenn Engländer in den vergangenen Jahrzehnten Gefühle wie Ehrfurcht oder Respekt für den deutschen Fußball empfanden, dann war normalerweise auch eine gebührende Portion Verachtung im Spiel. Schönheit und eine anerkennenswerte Fußballkultur wurde weder mit der Nationalmannschaft noch mit den Bundesligisten verbunden.
Scheinbar musste Jürgen Klopps Borussia Dortmund kommen, um das zu ändern. Zuletzt tauchten erstaunlich viele englische Journalisten bei den BVB-Pressekonferenzen auf und staunten über die Lockerheit des BVB-Trainers, über die gefüllten Stadien, über die imposante Stehplatztribüne im Westfalenstadion und die billigen Eintrittskarten.
Das englische Magazin World Soccer hat die Bundesliga gerade zur „besten Liga der Welt“ erklärt, und seit einer opulenten Titelstory der Fachzeitschrift FourFourTwo hat Borussia Dortmund in England den Ruf „Europas heißester Klub“ zu sein. Der BVB ist ein Sehnsuchtsort für englische Fußballromantiker geworden.
Und das liegt sicher nicht nur am Talent des Trainers, auf Englisch lustig zu sein, an den Fans und am Stadion, sondern auch am Fußball, mit dem die Mannschaft in den vergangenen Monaten die großen Nobelarenen des Kontinents eroberte. Die Bayern, die im vorigen Sommer viele Elemente des erfolgreichen Dortmunder Stils übernommen haben, mögen souveräner gewirkt haben auf dem Weg in dieses Champions-League-Finale, die größeren Abenteuer hat der BVB seinem Publikum beschert.
Taktik, Gier und Vollgas
Aber woher kommt dieser Fußball eigentlich, der in den vergangenen Jahren mit Begriffen wie „Vollgas“ oder „Gier“ assoziiert wurde, eigentlich?
Klopp selbst nennt Wolfgang Frank, wenn er nach seinem wichtigsten Mentor gefragt wird. Der derzeit arbeitslose Fußball-Lehrer war in Mainz 1995 der erste, der die Viererkette, das ballorientierte Spiel und eine ausgeklügelte Raumaufteilung bei einem deutschen Profiteam einführte. Klopp ist damals noch Spieler beim Tabellenletzten der Zweiten Liga gewesen. Plötzlich gewannen sie sogar in Unterzahl Spiele gegen individuell besser besetzte Teams.
Diese Erfahrung hat ihn geprägt. Indirekt wurzelt Klopps Sozialisierung als Trainer damit – ähnlich wie bei Bundestrainer Joachim Löw – in der kleinen Schweiz. Frank war von den eidgenössischen Auswahlteams inspiriert, Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre trainierte er den FC Aarau, den FC Wettingen und den FC Winterthur. Löw ließ seine Karriere ungefähr zur selben Zeit in Schaffhausen und beim FC Winterthur ausklingen, bevor er sechs Jahre als Trainer in der Schweiz arbeitete.
Inzwischen gehören die Innovationen von damals aber längst zum Standardrepertoire, Klopps andauernder Erfolg muss also andere Gründe haben. Er selbst nennt zuerst die „bedingungslose Bereitschaft, immer Gas zu geben“, in Mannschaften des gebürtigen Schwarzwälders gibt es keine Spieler wie Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi, die sich auch mal kleine Pausen gönnen, wenn der Gegner angreift.
Aus Potenzial wurde Qualität
Diese Spielweise sei „am Anfang sehr wild“ gewesen, erinnert sich Sportdirektor Michael Zorc an Klopps Anfangszeit beim BVB, aber diese Grundidee wurde immer weiter verfeinert. Vom FC Barcelona unter Pep Guardiola übernahm er das Stilmittel des Gegenpressings, bei dem versucht wird, in den ersten Sekunden nach eigenen Ballverlusten die Kugel zurückzuerobern.
Nun musste die Mannschaft nur noch reifen, seine Zöglinge hätten in den vergangenen fünf Jahren „aus Potenzial Qualität gemacht“, so Klopp, und nicht zuletzt sind ein paar großartige Individualisten wie Marco Reus, Robert Lewandowski dazugekommen.
Im Prinzip hat Klopp das alte, sehr physische Spiel deutscher Mannschaften aus den 80er und 90er Jahren, das von der Konkurrenz in aller Welt gleichermaßen verachtet und gefürchtet wurde, neu erfunden. Gepaart mit strategischer Finesse und technischer Reife ist dieser Stil hoch attraktiv.
Nicht nur in England finden die Leute diesen Fußball aufregender als die ermüdenden Ballstafetten des FC Barcelona. Und nun wird eine Mannschaft mit diesem Stil die Champions League gewinnen, denn die Bayern spielen ja mittlerweile ähnlich, kein Wunder, dass die Engländer Klopp am liebsten auf die Insel holen würden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Privatjet auf Sylt besprüht
Haftstrafen für Letzte Generation – ohne Bewährung
Abtreibungen legalisieren
Beschwörung eines „Kulturkampfes“, den es nicht gibt
Kürzungen im Kulturetat von Berlin
Gehen Kassiererinnen in die Oper?
Offensive in Syrien
Ist ein freies Syrien möglich?
Pressefreiheit in Israel
Bibis Medien-Blockade
Krankenkassen-Infos zur E-Patientenakte
Vorteile? Ja. Nachteile? Schweigen…