: Boris Seltsam und die Liebe zur Bombe
■ Präsident Jelzin quittiert US-Kritik am Tschetschenien-Krieg mit der Drohung: „Wir haben Atomwaffen.“ EU-Politiker schlagen schärferen Ton gegen Russland an. Der EU-Gipfel soll „Maßnahmen“ erörtern
Brüssel (taz) – Boris Jelzins gestrige Verbalattacke gegen Bill Clinton wird zweifellos heute die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Helsinki beschäftigen. Russlands Präsident bemühte gestern sein ganzes Atomarsenal, um die Kritik des US-Präsidenten am Vorgehen der russischen Truppen in Tschetschenien zurückzuweisen.
Die Tagesordnung beim EU-Gipfel heute und morgen in Finnlands Hauptstadt soll der Welt zeigen, dass Europa aus dem Kosovo-Konflikt Lehren gezogen hat. Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, Osterweiterung und Eurokorps stehen auf dem Programm. Eine Tschetschenien-Erklärung aber ist bislang nicht geplant. Der noch bis Jahresende amtierende finnische EU-Ratspräsident Lipponen stellte lediglich „Maßnahmen“ gegen Russland in Aussicht – ohne zu sagen, wie sie aussehen sollen.
Russlands Präsident hatte die vorsichtige Kritik Clintons am Tschetschenien-Krieg mit einer scharfen Drohung quittiert: „Clinton hat sich erlaubt, Druck auf Russland auszuüben. Er muss wohl für eine Sekunde, für eine Minute, für eine halbe Minute vergessen haben, was Russland ist, dass Russland über ein komplettes Arsenal an Atomwaffen verfügt“, sagte Jelzin gestern während eines Kurzbesuchs in China.
Bill Clinton lehnte indes Sanktionen gegen Russland ab. Würden westliche Hilfsgelder eingefroren, könnte Russland der internationalen Gemeinschaft entfremdet werden, sagte Clinton. Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin sicherte Jelzin Unterstützung bei seiner Tschetschenien-Politik zu. Auch der englische Nato-Generalsekretär George Robertson zeigte Anfang der Woche Verständnis für Russland. Moskau habe „keine andere Möglichkeit gehabt, als die Ordnung in diesem Teil des Kaukasus wiederherzustellen“. Gestern äußerte Robertson die Sorge, der Konflikt habe „Konsequenzen, die über Russlands Grenzen hinausgehen“. Das Ultimatum Moskaus, alle Bewohner müssten Grosny verlassen, sei aber an die Terroristen gerichtet, nicht an die Zivilbevölkerung.
Nach der Eroberung von Ursus-Martan und Schali ist die russische Armee in tschetschenisches Kernland vorgedrungen. Der stellvertretende Generalstabschef Waleri Manilow kündigte an, im Falle Grosnys solle die gleiche Taktik wie in anderen Orten angewandt werden: Schwere Artillerie und Kampfflieger belegen die Stadt zunächst mit Bombenhagel. Dann dringen Sondereinheiten ein.
Inzwischen sind nach UN-Angaben rund 250.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen. Allein in der Nachbarrepublik Inguschetien hätten 230.000 Menschen Zuflucht gesucht, sagte gestern ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt forderte die Teilnehmer des EU-Gipfels auf, Druck auf die russische und die tschetschenische Führung auszuüben. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder eine andere neutrale Organisation solle an der Evakuierung der Zivilisten beteiligt werden.
Einige europäische Politiker schlagen inzwischen einen schärferen Ton gegenüber Moskau an. Bundeskanzler Gerhard Schröder warnte schon am Mittwoch davor, der Konflikt könnte Russlands Beziehungen zur EU belasten. Es gehe nicht an, alle Bewohner Grosnys als Terroristen zu betrachten. Der französische Außenminister drohte, die Zusammenarbeit mit Moskau zu stoppen. Auch EU-Kommissionspräsident Romano Prodi sprach sich dafür aus, in Helsinki über Sanktionen gegen Russland nachzudenken.
Daniela Weingärtner
Tagesthema Seiten 2 und 3
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