Boris Johnsons Parteitagsrede: Die Hoden des Kängurus
Großbritanniens Premier bekennt sich vor seiner Partei zum Brexit am 31. Oktober. Und er stellt die Umrisse eines neuen Abkommens mit der EU vor.
Es war Johnsons erste Parteitagsrede als Premierminister, und sie fand unter dem Parteitagsmotto „Get Brexit Done“ statt – ein Satz, den er selbst immer wieder in seine Rede einflocht: Der Vollzug des Brexits werde Großbritanniens Erneuerung möglich machen. Nach Johnson-Maßstäben, werteten Johnson-Experten hinterher, war der 45-minütige Auftritt unspektakulär, aber aufschlussreich.
Der Premier sprach am gleichen Tag, an dem seine Regierung förmlich ihre detaillierten schriftlichen Vorschläge für eine Neufassung des Brexit-Abkommens mit der EU nach Brüssel schicken wollte. Diese Vorschläge sollen eine Alternative zum sogenannten Nordirland-Backstop darstellen, an dem die Annahme des bestehenden Deals dreimal im britischen Parlament gescheitert ist, weil er Großbritannien auf Dauer an die EU-Zollunion bindet.
„Einen Kompromiss für beide Seiten“ nannte Johnson vor den Parteitagsdelegierten den neuen britischen Vorschlag und umriss die wichtigsten Punkte: keine Kontrollen „an oder in der Nähe der Grenze“ zwischen dem britischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland; Einhaltung des Karfreitagsabkommens, das 1998 den Bürgerkrieg in Nordirland beendete; Bewahrung der geltenden Regularien – also der Regeln des EU-Binnenmarkts – für die Wirtschaft „auf beiden Seiten der Grenze“, solange die nordirischen Institutionen das mittragen, und zugleich Austritt aus der EU-Zollunion, was Großbritannien nach dem Brexit eine eigene Außenhandelspolitik ermöglicht.
„Die Alternative ist: No Deal“, rief Johnson zu starkem Applaus. Man wolle das nicht, aber „wir sind bereit“.
Das Brexit-Konzept war bereits am Vorabend an die Johnson nahestehende Tageszeitung Daily Telegraph geleakt worden, die damit am Mittwoch unter Schlagzeile „Brexit-Plan enthüllt: Premierminister krempelt die Ärmel hoch, um Brüssel finales Angebot zu schicken“ titelte. Dem Zeitungsbericht zufolge soll Nordirland bis 2025 im EU-Binnenmarkt bleiben und dann selbst entscheiden, wie es weitergeht – damit gäbe es eine befristete „regulatorische Grenze“ zwischen Nordirland und Großbritannien, was Theresa May früher immer abgelehnt hatte.
Das gesamte Vereinigte Königreich – also Großbritannien und Nordirland – werde aber bereits nach Ende der im Deal anvisierten Übergangsfrist, die bis Ende 2021 läuft, die EU-Zollunion verlassen. Um die dann prinzipiell nötigen Grenzkontrollen auf der irischen Insel zu vermeiden, solle die EU Nordirland eine Ausnahmeregelung von seinem Zollregime erteilen und Kontrollen durch technologische Maßnahmen ersetzen, die bis Ende 2021 zu entwickeln sind.
Johnsons Formulierungen vor den Parteitagsdelegierten werden von Kommentatoren allerdings als etwas unbestimmter gewertet – möglicherweise in Reaktion auf erste, sehr ablehnende Stellungnahmen aus Brüssel und Dublin zu den neu bekanntgewordenen Vorschlägen. Genaueres wird man erst wissen, wenn der schriftliche Vorschlag veröffentlicht wird.
Für die konservativen Aktivisten in Manchester war Johnsons klares Bekenntnis zum Brexit am 31. Oktober genug. In einem Großteil seiner Rede zeichnete der Premierminister eine Zukunftsvision Großbritanniens als „offenes, nach außen gekehrtes, globales“ Land mit hohen Einkommen und niedrigen Steuern, weltweit führend in grüner Technologie, liberal, „glücklich und selbstbewusst“.
Für all das brauche man den Brexit, und nur so könne man Großbritannien wieder zusammenführen. Johnson situierte sich klar auf dem linken Flügel seiner Partei, kündigte massive staatliche Investitionen in Gesundheit und Bildung, in Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur an. „Talent und Genialität sind gleichermaßen über das ganze Land verteilt – aber Chancen sind nicht gleichermaßen über das ganze Land verteilt!“, rief er in einer Schlüsselpassage, die starken Beifall bekam. „Es ist die Pflicht der Konservativen, Talente in jeder Ecke des Vereinigten Königreiches freizusetzen.“
Die schärfste Kritik reservierte Boris Johnson für Jeremy Corbyn, den er als Führer einer als „sich gegenseitig bekämpfende antisemitische Marxisten“ bezeichneten Labour-Opposition am liebsten in eine noch zu entwickelnde Weltraumstation schicken wolle, sowie für das Parlament, das sowohl den Brexit als auch Neuwahlen verhindere.
„Wenn das Parlament eine Reality-TV-Show wäre, hätte man uns alle längst aus dem Dschungel geworfen. Aber immerhin hätten wir zusehen können, wie der Speaker den Hoden eines Kängurus essen muss“, rief der Premier zu anschwellendem Gelächter. „Und die traurige Wahrheit ist, dass die Wähler bei ‚Dschungelcamp‘ mehr zu sagen haben als mit diesem Unterhaus.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?