Bodenversiegelung in Niedersachsen: Bauboom auf der grünen Wiese
Im Emsland wird so viel Boden verbraucht wie kaum anderswo. Im Kreis Diepholz geht ein Bürgermeister gegen den Flächenfraß vor. Mit Erfolg.
Empfohlener externer Inhalt
Bis vor einigen Monaten hätte sich das Eichhörnchen an selber Stelle nicht vor Greifvögeln fürchten müssen. Da war die zwei Fußballfelder große Fläche noch ein Waldstück. Nun ist sie platt, eingeebnet vom Bagger. Die Bauplätze sind mit Holzpflöcken abgesteckt für ein gutes Dutzend Einfamilienhäuser; die Straße, die künftig die Häuser anbinden soll, ist schon asphaltiert.
Es ist der Beginn der Versiegelung. Wie hoch der versiegelte Anteil künftig sein wird, lässt sich rechts der Fläche schon erahnen: Dort stehen bereits acht Einfamilienhäuser, mal rot, mal weiß verklinkert, mitsamt ihren gepflasterten Auffahrten und Schottervorgärten.
„Es war mal ein Mischwald, in dem auch Fledermäuse, Waldkauze, Spechte und Kleiber lebten“, sagt Hübner und streicht sich die rotlockigen Haare aus dem Gesicht. Wie es hier vorher aussah, lässt sich zur linken Seite hin erahnen: Dort steht der Wald noch.
Hübner ist beim Naturschutzbund Nabu im Emsland tätig und wohnt mit ihrer Familie wenige Hundert Meter entfernt in Lehrte, einem Ortsteil von Haselünne im tiefsten Emsland. „Und jetzt geht es hier los, dass nicht mehr nur Äcker, sondern sogar Waldflächen für den Siedlungen und Gewerbe platt gemacht werden“, sagt sie. Dabei gebe es ja ohnehin schon kaum Wald in der Region.
Im Emsland wird nach Einschätzung des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) zu viel gebaut. Wohnimmobilien sind in ganz Niedersachsen gefragt, aber das Emsland steht bei dieser Entwicklung an der Spitze und hat landesweit am meisten neue Flächen Bauland ausgewiesen – das geht aus der jüngsten „Wohnbauland-Umfrage“ der landeseigenen N-Bank für den Zeitraum 2018/2019 hervor. „Das glaube ich sofort“, sagt Hübner und schnauft.
126 Hektar vor allem für Einfamilienhäuser
Der Flächenlandkreis Emsland hat der Analyse zufolge insgesamt 126 Hektar neues Wohnbauland geschaffen – darauf entstanden sind überwiegend Einfamilienhäuser. Aus dem Stegreif zählt Hübner auf, was für Folgen der Flächenverbrauch und die Versiegelung der Böden zur Folge hat: Der Boden filtert nicht mehr das absickernde Wasser, wodurch es wiederum langfristig am Grundwasser mangelt und bei Starkregen zu Überschwemmungen kommen kann. Das Lokalklima heizt sich auf.
Und wenn immer mehr Ackerflächen versiegelt werden, muss die Landwirtschaft die Gülle auf weniger Fläche loswerden – die Schadstoffkonzentration nimmt dort zu. „Ich konnte letztens beobachten, wie sich die Amseln schon bis auf den Tod bekämpften“, sagt Hübner. Den Tieren geht der Lebensraum verloren, einfach auf die nächste Fläche ausweichen können sie nicht – da ist schon das Revier und die Nahrung von anderen.
Zwischen der Neubausiedlung und dem Ortskern von Lehrte ist ein kleiner Acker, auf dem gerade der Mais wächst. „Der Bauer wollte wohl nicht verkaufen“, sagt Hübner. Die Landwirte stehen schließlich selbst immer mehr unter Druck. Verkleinern sie ihre Geschäftsgrundlage, wird es für sie immer schwieriger, im Wettbewerb zu bestehen. Für die aktuellen und künftigen Bewohner:innen der Siedlung ist das Feld zwischen sich und der Ortschaft wohl willkommene Idylle: Sie wohnen komplett umgeben vom Acker und dem Wald: ein Leben im Grünen.
Für den Ort ist das hingegen eine zwiespältige Entwicklung – zwar wirken Dörfer der Überalterung der Bevölkerung durch die Bereitstellung von Baugebieten entgegen, weil es ja meist junge Familien sind, die dort bauen, andererseits zersiedeln die Ortschaften durch jede Erweiterung immer mehr. „Dadurch leidet sicherlich auf lange Sicht die Dorfgemeinschaft“, sagt Hübner.
Ein Bewusstsein zu schaffen, reicht nicht
Sie zeigt auf Google Maps auf ein Waldgebiet kurz vor dem Ortseingang von Haselünne. Auf dem Weg dorthin blickt Hübner entlang der Straßenränder ständig auf den nicht versiegelten Boden. Sie schaut, welche Gräser dort wachsen oder wo in den sandigen Böden klitzekleine Häufchen mit einem Loch in der Mitte sind – die Nistplätze von Sandbienen.
Beim Nabu, sagt sie, geht’s nicht nur darum, gegen unökologische Projekte zu wettern, sondern auch aktiv bei der Verbesserung der Umwelt zu helfen. Zu Hause pflegt sie eine Fledermaus, die flugunfähig ist. Und im Unterschied zu den Nachbarn ist bei den Hübners der Rasen nicht akkurat gemäht, sondern eine wildwachsende Sträucherwiese.
Am Ortseingang von Haselünne angekommen, zeigt sich, dass die digitale Luftansicht veraltet ist. Statt eines Kiefernwaldes ist hier nun eine hell strahlende Sandwüste, 150 Meter breit und 400 oder 500 Meter lang. Sechs Bagger planieren gerade mühsam das Gelände. Den überschüssigen Sand haben sie schon aufgehäuft, er überragt sie um einige Meter. „Früher war das hier noch sehr hügelig – eine eiszeitliche Moräne“, erklärt Hübner, daher komme der ganze Sand.
Ein anderer Bagger, der am rechten Rand steht, füllt unermüdlich einen großen Häcksler, um die Äste und Sträucher der Fichten zu zerkleinern. Einige der Stämme liegen noch am Rand gestapelt, bereit zur Abholung. Anfang des Jahres begannen die Rodungsarbeiten. Bald soll der Platz für ein Gewerbegebiet vorbereitet sein.
Vor langer Zeit war das Emsland mal eine arme Region, doch das ist längst vorbei. „Es boomt hier wirtschaftlich“, sagt Hübner, die vor elf Jahren nach Lehrte gezogen ist. Laut Prognosen soll die Einwohnerzahl in der Region in den kommenden Jahrzehnten leicht wachsen – doch der Flächenverbrauch wächst ungleich schneller.
Katha Hübner, Nabu Emsland
In nahezu jeder Ortschaft im Emsland gibt es zwei markante Ansichten: ein Neubaugebiet auf der grünen Wiese – und eine Andachtsstation mit Jesus-, Marien- und anderen Heiligenstatuen, an der sich Gläubige beim Vorbeigehen bekreuzigen können, was man sonst nur aus Süddeutschland kennt. Rund 70 Prozent der Emsländer:innen sind katholisch. Die CDU hat seit Jahrzehnten ein Abo auf jeden Wahlsieg. „Hier im Emsland ist das Bewusstsein für einen schonenden Umgang sicher noch nicht so weit verbreitet“, sagt Hübner.
Dennoch, bei den anstehenden Kommunalwahlen im Herbst können die Wähler:innen in Haselünne zum ersten mal ein Kreuz bei den Grünen setzen, das gab es bislang noch nie. „Ein Bewusstsein bei den Menschen zu schaffen, reicht sicherlich nicht – es braucht konkretes politisches Handeln“, sagt Hübner. Wie das aussehen könnte, zeigt sich knappe 70 Kilometer weiter östlich.
Eine Gemeinde, die es besser macht
Die Samtgemeinde Barnstorf liegt im Landkreis Diepholz in der Nähe von Bremen. Es ist flach dort, entlang der Landstraßen erstrecken sich Maisfelder. Bei der Autofahrt hat Jürgen Lübbers die meiste Zeit nur eine Hand am Lenker. Mit der anderen muss er entweder Leute grüßen, die ihm im Auto oder auf den Fußwegen entgegenkommen – oder er zeigt damit auf Häuser rechts und links der Straßen.
„Hier, das war vorher auch Brachland“, sagt er und zeigt auf ein modernes Mehrfamilienhaus. „Und hier rechts, die Fläche konnten wir auch zur Innenverdichtung gewinnen.“ Bei einem dritten Gebäude freut er sich besonders: „Hier ist das erste Mehrgenerationenhaus entstanden.“
Der freundliche Herr Lübbers – weiße Haare, weißer Bart, weißes, kurzärmeliges Hemd – fährt nicht nur gern durch seine Heimatgemeinde, er reist mittlerweile mehrmals im Jahr für Vorträge durch die ganze Bundesrepublik, um von Barnstorf zu erzählen. Und um anderen ländlichen Gemeinden und Städten zu zeigen, wie sie ihren Flächenverbrauch und damit die Versiegelung reduzieren – und damit auch noch der Verödung der Ortskerne entgegenwirken können.
Lübbers ist Bürgermeister der Samtgemeinde. Schon die Ausbildung zum Verwaltungsbeamten hatte er, in den 1970ern, im Rathaus in Barnstorf gemacht. Zwischenzeitlich, Anfang der 90er, verschlug es ihn für den Posten des Amtsleiters in den Landkreis Bitterfeld im Osten. Lübbers ist seit 23 Jahren Bürgermeister der Samtgemeinde. Im Herbst geht er in Rente.
Die Samtgemeinde besteht neben Barnstorf noch aus drei weiteren Ortschaften. Entgegen der allgemeinen Tendenz im ländlichen Niedersachsen wächst die Gemeinde seit einigen Jahren kontinuierlich. Schon allein deswegen müsste es hier, ähnlich wie im Emsland, eine stark zunehmende Umwandlung von Wiesen, Äckern oder gar Wäldern in Siedlungs- und Gewerbegebiete geben.
Doch schon vor mehr als einem Jahrzehnt hat die Samtgemeinde beschlossen, nicht mehr auf der grünen Wiese bauen zu lassen. Damit stemmt sie sich beim Flächenverbrauch und bei der Versiegelung gegen den allgemeinen Trend – und wird regelmäßig von Umweltverbänden gelobt.
„Ehrlich gesagt: Um Nachhaltigkeit ging es mir anfangs nicht“, sagt Lübbers. 2005 schloss überraschend die Bundeswehrkaserne vor den Toren Barnstorfs. Die Gemeinde überlegte, wie sie auf der Fläche Gewerbetreibende ansiedeln könnte. Lübbers ging auf die Suche nach Fördermitteln und stieß dabei auf ein Förderprogramm des Bundes, das, wissenschaftlich begleitet, Kommunen beim sparsamen Umgang mit Flächen unterstützt. „Irgendwann hat es dann auch bei mir Klick gemacht, dass das ökologisch sinnvoll ist.“
Die Ansiedlung neuer Gewerbetreibender auf dem ehemaligen Kasernengelände gelang ohne neue Versiegelung von Ackerflächen – nun sollte die gesamte Gemeinde sich nach diesem Prinzip entwickeln.
Er habe viel Überzeugungsarbeit leisten müssen – auch hinter den Kulissen. „Manche hier im Rathaus waren entgeistert, als ich vorschlug, nicht mehr auf der grünen Wiese bauen zu lassen“, sagt Lübbers und lacht munter. Auch in Barnstorfs Verwaltung war man davon überzeugt, es sei gut, so viel wie möglich neues Bauland auszuweisen. „Ich habe auch so gedacht“, sagt Lübbers.
2008 konnte er im Gemeinderat einen Grundsatzbeschluss durchboxen. „Es kam zur Kampfabstimmung und wir haben sie knapp gewonnen.“ Der zentrale Satz des Beschlusses lautet: „Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung und eines schonenden Umganges mit den natürlichen Ressourcen wird die Samtgemeinde Barnstorf ein nachhaltiges Flächenmanagement durchführen.“
Zustimmung zur Verdichtung
„Nachhaltiges Flächenmanagement“ ist ein sperriger Begriff. Konkret bedeutete er: Die Verwaltung ging auf die Suche nach allen Brachflächen innerorts und versuchte, die Eigentümer:innen davon zu überzeugen, ihre Zustimmung zur Verdichtung zu geben. Heute leistet die Gemeinde auch finanzielle Unterstützung, wenn Einwohner:innen alte, marode Häuser abreißen, um darauf neu zu bauen. „Für eine Sanierung braucht es viel Geld“, sagt Jürgen Lübbers. Aber neu versiegelt wird dadurch nichts.
Auch sein Büro im Rathaus ließe sich als nachhaltig beschreiben – es versprüht den Charme von Amtszimmern aus den 90er Jahren. An der Wand hängen Luft- und Landkarten der Samtgemeinde. Der Drucker, der links von ihm auf einem Tisch steht, könnte aus derselben Zeit stammen.
Aus seinem Fenster schaut der Bürgermeister raus auf Barnstorfs Hauptstraße, auf den Ortskern mit seiner Handvoll Geschäfte, die trotz der vielen Schwierigkeiten, die ländliche Gemeinden haben, noch immer existieren: „Hätten wir nicht auf einen nachhaltigen Umgang mit Flächen gesetzt, wäre hier heute viel verfallen und verödet“, sagt Lübbers.
Jetzt wohnen mehr Ältere im Zentrum, denen das alte Haus zu groß geworden ist. „Das ist natürlich für die Geschäftsleute sehr gut“, sagt Lübbers. Ihre Kund:innen wohnen nun nebenan.
„Mit dem Boden nachhaltig umgehen wird man nicht von heute auf morgen“, sagt Lübbers. Auch in Barnstorf werden noch Äcker in Siedlungen verwandelt und versiegelt. Mit seinem grauen Auto biegt er links in ein Neubaugebiet ein. „Barnstorf wächst seit einiger Zeit rapide“, sagt Lübbers.
Dicht an dicht drängeln sich die Einfamilienhäuser aneinander, jeweils nur durch ein, zwei Meter breite Rasenflächen getrennt. Außer dem Rasen und einigen Zierrosen wächst innerhalb der Siedlung nichts. Kein Beet, keine Büsche – graue Wüste umgeben von grünen Feldern.
„Da würden wir wohl beim nächsten Mal etwas rigidere Vorgaben für eine geringere Versiegelung machen“, sagt Lübbers. Es braucht Geduld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren