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Wo die Stadt schreitW wie Warschauer, W wie Wachkoma


Wenn man mal länger nicht in Berlin war, weiß man mit der hibbeligen Warschauer Straße doch gleich wieder, meint unser Kolumnist, was man hat an der Stadt.

Einstiegshilfe oder Fluchtweg: die U-Bahn an der Station Warschauer Straße Foto: Carsten Koall/picture alliance/dpa

E s gibt Orte in Berlin, die fühlen sich an wie der späte Sonntagvormittag vor einem Brunch – wohlig erschöpft, den Kater gezähmt und Appetit auf etwas Zünftiges. Dann gibt es noch die Warschauer Straße. Und die fühlt sich an, als wenn einem der Brunch nicht bekommen wäre.

Besonders deutlich spürte ich das gerade erst wieder an einem Sonntagnachmittag, als ich nach einigen Wochen Berlin-Abstinenz auf dem Weg vom Flughafen nach Hause war. Am S-Bahnhof Warschauer Straße musste ich in die U-Bahn umsteigen. Dorthin kommt man über die Warschauer Brücke, das zwischenmenschliche Sahnehäubchen dieser Straße.

Die Warschauer Brücke ist kein Ort, sie ist eine Raum-Zeit-Anomalie. Wer hier steht, steht nicht einfach irgendwo, man befindet sich in der Endlosschleife aus Clubnächten, Dönerresten, billigem Parfüm, Reifenabrieb und warmem Bier. Zwischen S-Bahn-Schlauch und U-Bahn-Eingang wechselt man nicht einfach nur den Bahnsteig – es ist der reinste Parkourlauf um Pfützen von Erbrochenem, Rotz und Urin. Durch menschliche Ausdünstungen und Gruppen hängengebliebener Touris. Ein nerviges Hin und Her zwischen Gestalten im Drogenrausch, Wodka-Veteranen und überdrehtem Partyvolk. Hier rollt man nicht den Koffer, hier ist Tragen Pflicht. Hach, Berlin! Wie hab ick dir vermisst!

Die ganze Warschauer Straße ist kein Ort, sie ist ein Aggregatzustand. Feucht, laut, heiß, klebrig. Dieses hibbelige Stück Friedrichshain beginnt an der Oberbaumbrücke, der gefühlten Brooklyn Bridge Berlins und Bindestrich im sperrigen Bezirksnamen „Friedrichshain-Kreuzberg“. Sie zieht sich weit über einen Kilometer hin bis zum Frankfurter Tor, dessen mehrspurige Fahrbahn und imposante Architektur einst dem Sozialismus huldigten.

Würde man Berliner Stadtteilen Lebensphasen zuordnen, die Warschauer wäre eine pickelige Teenagerin auf dem Höhepunkt ihrer Pubertät oder ein Mittfünfziger im Abgrund seiner Midlife-Crisis.

Die Gegend schreit. Nicht im übertragenen Sinne. Sie schreit wirklich. Tagsüber kreischen Männergruppen mit den Möwen um die Wette, während sie sich auf der Spree an den Pedalen eines dieser räudigen Biertretboote verausgaben. Nachts schreien verlorene Gestalten ihren Frust in den Himmel – oder ins Gesicht eines anderen, bevor es Kloppe gibt. Dazwischen brüllen Straßenmusiker mit ihren Verstärkern ihre zerkratzten Seelen in die Unterführung, während auf dem RAW-Gelände ein Bass dröhnt, den man vermutlich noch viele Kilometer entfernt am Wannsee spürt.

Man kann die Warschauer nicht hassen, man kann sie aber auch nicht lieben

Die Warschauer ist weder Fisch noch Fleisch – auch wenn sie so riecht. Sie ist ein Ort des Dazwischen. Hier passiert alles gleichzeitig: die erste große Liebe und der letzte Absturz, der Beginn eines Trips und das Ende der Selbstachtung. Hier wird gelebt, als gäbe es kein Morgen. Weil das Heute schon heftig genug ist.

Heftig ist auch die Gentrifizierung. Beim Anblick des kolossalen Amazon-Towers und der klobigen East Side Mall sehnt man sich schnell wieder nach dem Parkour auf der Brücke und ahnt die Zusammenhänge zwischen beiden Welten. Im Kleinen aber lassen sich hier wahre Perlen entdecken. Kleine Schätze von Streetart, ein tighter Rap am U-Bahn-Eingang, kulinarische Vielfalt und Anwohner, die einem trotz des Wahnsinns ein Lächeln schenken.

wochentaz

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Man kann die Warschauer nicht hassen, man kann sie aber auch nicht lieben. Man kann ihr nur immer wieder verfallen. Und so taumelt man wohl weiter über die Brücke, rein in die nächste Flucht aus der Realität, fern jeder Verpflichtung, wechselt in den Klassenfahrtmodus und denkt sich: W wie Warschauer, W wie Warum-bin-ich-schon-wieder-hier?!

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Bobby Rafiq
Jahrgang 1976, Südhang Hindukusch. Berliner Junge. Schon als Kind im Widerstand gegen Exoten-Bonus und Kanaken-Malus. Heute als Autor und Producer zu unterschiedlichen Themenfeldern journalistisch tätig. Für TV, Print, Online und Bühne. Und fast immer politisch.
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