Blume gegen den Herbstblues: Das bisschen Trost
Was tun gegen Dunkelheit, Kälte und schlechte Nachrichten? Über das Glück, sich vor dem Winter eine zu große Chrysantheme zu kaufen.
Es war sofort Liebe. Keine Ahnung, was neben ihr stand. Vermutlich ein paar Eimer mit traurig-braunen Herbststräußen für 6,99 Euro oder ein paar einsame umdrahtete Gerberas, die immer an die hässliche Reagenzglasvase im VW New Beetle erinnern. Vielleicht ein paar Zimmerpflanzen, bestimmt auch Nelken, vielleicht alles davon. Im Hintergrund Fußgänger in Daunenjacken, meistens schwarz, marineblau, und eine vierspurige Hauptstraße, genauso grau wie der Himmel. Alles schrie nach Herbst, nur sie nicht. Eine Chrysantheme. Groß, pink und buschig. Am liebsten wäre ich zusammengeschrumpft, hätte Anlauf genommen und mich dann voller Wucht in sie reingeworfen, wie ich mich als Kind beim Blick aus dem Flugzeugfenster gern in die Wolken gestürzt hätte.
Aber ich kann mich nicht schrumpfen, also tunkte ich nur kurz meine Nasenspitze zwischen die Blüten. Sie dufteten kaum, aber das Gefühl war gut, wie wenn man ganz nah am Gesicht eines geliebten Menschen liegt und dessen Wimpern in der Kuhle zwischen Nasenflügel und Wangenknochen fühlen kann.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ich hob den Pflanztopf an, leichter als gedacht. Im Laden bezahlte ich 8 Euro und fand das nicht zu viel für die Liebe, obwohl vergleichbare Pflanzen beim Discounter um die Ecke für die Hälfte im Angebot waren, obwohl Pflanzen in meinen Händen bisher nicht die besten Überlebenschancen haben, und obwohl mir der Kauf wie Überfluss vorkam, weil es sich eindeutig um eine L-Pflanze handelte, aber ich doch sonst eine M-Person bin – ich entscheide mich meist für die mittlere Größe: Popcorntüte, Kaffee, Prepaid-Tarif. Alles egal. Ich hatte viel zu lange nichts so Schönes mehr gesehen. Also trug ich sie nach Hause.
Das Kurz-mal-alles-andere-Vergessen
Ich habe erst später bemerkt, wie nötig ich das hatte. Den großen Topf nehmen. Das Auf-der-Straße-angelächelt-Werden von Unbekannten, weil ich eine Frau mit Schweiß auf der Stirn und einem für die Jahreszeit perfiden Dauerlächeln war, die bepackt mit einem viel zu schweren Jutebeutel einen blühenden Strauch vor sich hertrug. Das Kurz-mal-alles-andere-Vergessen. Das bisschen Schönheit, das bisschen Trost. Und Trotz, irgendwie. Trotz November. Trotz Sonnenuntergang um 16.13 Uhr. Trotz der schlechten Nachrichten. Eine Chrysantheme.
Ich gebe zu, dass ich nicht sofort wusste, dass es sich um eine Chrysantheme handelt. Ich kenne mich mit Pflanzen nicht aus. Jahrelang habe ich mich fast ausschließlich für Schnittblumen interessiert, und auch das selten genug, um mir ihre Namen zu merken. Ich hätte gern von denen hier, habe ich immer gesagt, und manchmal nannte die Floristin dann den Namen besagter Blume, sie sagte: Ah, von der Anemone, oder: Sie meinen die Dahlien?, und ich nickte, aber hatte die Namen meist wieder vergessen, wenn ich die Blumen zu Hause in die Vase stellte.
Jahrelang fand ich diese Teile meines Ichs sehr schwer zu vereinbaren: Die Frau, die Blumen liebt, und die Frau, die kein wirkliches Interesse entwickelt, ebenjene Blumen zu pflegen, außer ab und zu mal das Wasser zu wechseln. Ethisch müsste das ja zusammengehören, oder nicht? Wenn ich nicht erhalten lernen will, was ich so liebe – liebe ich es dann überhaupt?
Möglicherweise das Todesurteil meiner neuen Geliebten
Die Frau im Blumenladen meinte: Nicht direkt in die Sonne. Und nicht von oben gießen, sondern das Wasser in die Schale unter dem Pflanztopf geben. Reicht das, oder muss ich mehr wissen? Ich google „Chrysanthemen Balkon“ und werde vom Internet der Botanikexpert*innen verschluckt. Ich lese Artikel namens „Chrysanthemen auf dem Balkon überwintern“ (die erste große Herausforderung für mich und meine neue Geliebte), „Chrysanthemen reichlich gießen“ (möglicherweise das Todesurteil meiner neuen Geliebten) und „Nicht alle Chrysanthemen sind winterhart und mehrjährig“ (möglicherweise meine Ausrede, falls meine neue Geliebte bei mir verfrüht ums Leben kommt).
Ich merke mir, dass Chrysanthemen zu den Korbblütlern gehören, dass es sogenannte Zungen- und Röhrenblüten gibt, und dass Adjektive namens „drüsenhaarig“ und „ungeflügelt“ existieren. Ich erinnere mich an chinesischen Chrysanthementee, der die Leber reinigen und die Augen klarer machen soll, ich lese von Chrysanthemenöl und -badezusatz. Ich hefte mir eine Website an den Browser, die Jutesäcke als Frostschutz verkauft, und bestelle eine Gartenschere, natürlich aus dem Mittelklassepreissegment.
Zwischendurch sehe ich die Chrysantheme auf dem Balkon, pink und leuchtend, neben den kleinen Töpfen, in denen schon alles vertrocknet ist. Eigentlich, denke ich, brauche ich gar nicht mehr. Eigentlich ist das genug.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind