Bitte Abstand halten: Corona!: Kein Ausdruck von Reife
Abiturienten ziehen Arm in Arm feiernd durch die Parks, Eltern begrüßen sich auf Kindergeburtstagen mit Küsschen: Ist Abstand halten so schwer?
E ine Straßenecke knapp 200 Meter von einem Gymnasium im Südwesten der Stadt: 30, 40 junge Menschen, kostümiert, Arm in Arm, Flaschen in der Hand, laut „Abitur“ rufend.
Eigentlich ein schöner Anblick – junge Leute, die den letzten Schultag vor ihren ebensolchen Prüfungen feiern. In Zeiten von Corona aber ein trauriger, der von absoluter Ignoranz zeugt. Schon mehrere Tage liegt der dringliche Aufruf der Kanzlerin zurück, auf Sozialkontakte zu verzichten. Schier fusselig haben sich Mediziner und Politiker den Mund geredet, um klarzumachen: Es braucht keine Symptome, um Virenträger zu sein, jeder und jede kann unbewusst andere anstecken, bitte auf Abstand gehen.
Doch nun eben „Hurra, Abitur“ und Umarmen. Eine Reifeprüfung soll das Abitur sein, doch man ist geneigt, dieser Gruppe die Reife abzusprechen. Eine Reife nämlich, die mehr ist als eine Mindestpunktzahl für die Abiturzulassung: eine, die das Denken über den eigenen Tellerrand und die eigene Gesundheit hinaus umfasst und einen Wert wie Solidarität beinhaltet.
Es sind auch die, die tags zuvor die Liegewiese im Volkspark Friedrichshain dicht gedrängt bevölkerten, es sind die Eltern, die beim Abholen ihrer Kinder vom Geburtstag noch immer nicht darauf verzichten, die Gastgeber zu umarmen. Die maximal ironisch-distanziert den Handschlag durch einen Ellenbogen-Check ersetzen und immer noch von „übertriebenen Maßnahmen“ und „Panikmache“ reden. Oder die, die die nun geschlossene Kneipe verließen und nebenan im Späti in Gruppen weiter tranken.
Haben die alle keine Eltern oder Großeltern, die mal kränkeln? Oder eine alte Nachbarin, die jeden Winter flachliegt? Jene Menschen also, die man als Erste mit den Füßen voran zur Tür heraustragen wird, wenn sich Corona nicht eindämmen lässt? Theoretisch ja, emotional offenbar nicht.
Kein Riesenopfer
Und das betrifft sichtlich nicht nur jene Schülergruppe, die Menschen im Park und die ironischen Kindergeburtstagseltern, sondern viele, viele mehr. Sonst hätte sich Bundespräsident Steinmeier jetzt nicht genötigt gesehen, in einer Videobotschaft Solidarität mit Alten und Schwachen einzufordern – „sagen Sie nicht: Ich bin jung und stark, mich trifft das nicht!“
Selbst wenn das alles am Ende nicht helfen sollte – ist es so ein Riesenopfer, für zumindest die Möglichkeit, dass es Leben rettet, die große Party zwei, drei Monate zu verschieben oder sich mal nur zuzuwinken und auf zwei Meter Abstand zu bleiben?
Andere Dinge sind tatsächlich schmerzlich – Verdienstausfall vor allem. Aber gerade der ist noch schmerzlicher, wenn er vergebens ist, weil konterkariert durch das, was sich eben an der Schule, im Park oder beim Kindergeburtstag gezeigt hat: fehlende Reife und keine Einsicht, dass „Wir Berliner schaffen das“ nicht heißt, seinen individuellen way of life einfach weiter durchzuziehen.
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