Biografie der ukrainischen Stadt: Traumhaftes, schreckliches Odessa
Charles King hat eine lebendige Geschichte des einst multikulturellen Odessa vorgelegt, die eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit dokumentiert.
Spätestens seit der russischen Annexion der Krim im Jahre 2014 ist diese am Schwarzen Meer gelegene Halbinsel im fernen Südosten Europas wieder ins Bewusstsein auch des westlichen Europas gerückt; eine Halbinsel, die seit der Antike und dem Mittelalter immer wieder die östliche, die kulturelle Grenze des – seit Herodot – griechischen Europas und dann des christlichen Abendlandes markierte.
Weitaus weniger bekannt ist, dass die Krim ein wesentliches Siedlungsgebiet von Jüdinnen und Juden war – nicht zuletzt deshalb, weil in dieser auch im Zarenreich stets kosmopolitischen, von internationalen Handlungsbeziehungen eine offene, aufgeklärte Atmosphäre herrschte, die auch Gruppen, die im christlichen Abendland nur ungern gelitten waren, nicht nur duldete, sondern geradezu förderte. Lag doch die Krim lange Jahre auch im osmanischen Einflussbereich.
Wenig bekannt ist zudem, dass im Südosten Europas – nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch unter dem Einfluss der Chasaren seit dem 11. Jahrhundert in Georgien und seit dem 13. Jahrhundert auf der damals erst christianisierten Krim – jüdisches Leben bezeugt ist. Noch weniger bekannt ist indes, dass dort auch die jüdische Aufklärung, die „Haskala“ – die in der Regel seit Moses Mendelssohn den deutschen Ländern zugerechnet wird – eines ihrer Zentren hatte.
Das Odessa des 18. Jahrhunderts jedenfalls war trotz zaristischer Herrschaft eine weltoffene, von Franzosen, Italienern und von Juden geprägte Handelsstadt, in der soziale Spannungen sich jedoch immer wieder in antisemitischen Pogromen äußerten – eine Tendenz, die sich bis ins frühe 20. Jahrhundert fortsetzte.
Vernichtung der Juden
Ja sogar bis in die Zeit der russischen Revolution, die auch und gerade durch Künstler, die in Odessa lebten, ihre kulturelle, künstlerische Physiognomie erhielt: So publizierte Isaac Babel bereits 1921 Kurzgeschichten aus und über Odessa, während dort 1925 Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ verfilmt wurde.
Indes: Odessa und die Krim waren auch Gegenstand und Ziel faschistischer Kriegsführung. Waren doch beide zwischen 1941 und 1944 von dem mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündeten faschistischen Rumänien besetzt – einem Rumänien, das sich aktiv an der Vernichtung der dortigen Judenheit beteiligte. Mit einer verheerenden Bilanz: Waren im Jahr 1926 noch 36 Prozent der Bevölkerung Odessas jüdisch, so waren es 1989 nur noch 4 Prozent.
Von alledem erzählt die neue Monografie des US-amerikanischen Historikers Charles King, der an der Georgetown University internationale Politik lehrt. Sein soeben erschienenes Buch „Odessa. Leben und Tod in einer Stadt der Träume“ informiert das lesende Publikum auf ebenso unterhaltsame wie informative Weise über eine Stadt, die gegenwärtig wieder die Aufmerksamkeit internationaler Politik auf sich zieht. Dass und wie diese Stadt aber auch ein Zentrum jüdischen Lebens vor der Shoah war, wird erst durch die Lektüre dieses Buches klar.
Nicht zuletzt durch den Verweis auf einen noch immer zu wenig gelesenen jüdischen Autor und einflussreichen zionistischen Politiker: Wladimir Jabotinsky war der Begründer des rechten, des nichtsozialistischen Zionismus. Er wurde 1880 als Sohn einer jüdischen, bürgerlichen Familie, die als „assimiliert“ gelten konnte, in Odessa geboren und starb 1940 in New York.
Sehnsuchtsort Odessa
Sein viel zu spät, erstmals 2012 auf Deutsch publizierter, bereits 1935 in der Schweiz geschriebener und 1936 publizierter Roman „Die Fünf“ lässt das Flair des Odessas der Vorkriegszeit, dieser so schönen Stadt am Meer, auferstehen.
Charles King: „Odessa Leben und Tod in einer Stadt der Träume“. Edition Tiamat, Berlin 2023, 392 Seiten, 32 Euro
Hier erzählt Jabotinsky in luzider, niemals anklagender Prosa vom Leben, Lieben und Leiden einer assimilierten jüdischen Familie aus Odessa, um seinen Roman mit diesen Worten zu schließen: „Es war eine komische Stadt; aber auch Lachen ist Zärtlichkeit. Doch jenes Odessa gibt es vermutlich nicht mehr, und ich brauche es nicht zu bedauern, dass ich nicht mehr dorthin gelangen werde.“
Das trifft die Lage des heutigen deutschen Lesepublikums – gleichwohl: Die Lektüre von Kings ebenso unterhaltsamer wie auch bildender Studie ersetzt eine Reise beinahe; der Autor dieser Zeilen jedenfalls hat seit Langem kein so – in allen Hinsichten – gelungenes Buch gelesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen