piwik no script img

Biografie „Der Pistoleiro“Sterben müssen sie sowieso

Die „wahre Geschichte eines Auftragsmörders“ von Klester Cavalcanti erscheint pünktlich, auf Deutsch, zur Frankfurter Buchmesse.

492 Menschen starben durch den Auftragsmörder Júlio Santana: Seine Biografie liest sich wie ein Roman. Bild: dpa

BERLIN taz | Júlio Santana nahm in seinem Leben 491 Auftragsmorde an. 492 Menschen starben durch ihn – einer, der 19-jährige Joao Baiano, nur wegen einer Verwechslung. Sieben Jahre lang befragte der brasilianische Journalist Klester Cavalcanti den „Pistoleiro“ in regelmäßigen Telefongesprächen nach seinem Leben.

Doch erst 2006, nachdem er beschlossen hatte seinen „Beruf“ aufzugeben und mit seiner Familie in einen anderen Bundesstaat zu ziehen, stimmte Santana einem persönlichen Treffen zu und gab seinen Namen preis. Wenig später veröffentlichte Klester Cavalcanti seine „wahre Geschichte eines Auftragsmörders“ in Brasilien und erhielt dafür den brasilianischen Jabuti-Literaturpreis.

Pünktlich zum Brasilienschwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist nun die sorgfältig kommentierte deutsche Übersetzung des Buchs unter dem Titel „Der Pistoleiro“ erschienen. Besonders die darin enthaltenen zahlreichen Verweise zur jüngeren brasilianischen Geschichte sind angesichts der Monstrosität der Biografie hilfreich – macht doch Cavalcantis Porträt des Killers vor allem die historische und gesellschaftliche Dimension der in Brasilien begangenen Auftragsmorde und deren Straflosigkeit deutlich.

Das Buch

Klester Cavalcanti: „Der Pistoleiro. Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders“. A. d. Port. von W. Jakob und M. Kegler. Transit Verlag, Berlin 2013, 168 S., 19,80 Euro.

So stellt sich für den Autor heute die Frage: „Wie kann es sein, dass in einer der größten Volkswirtschaften der Welt, einem Land, das wächst und immer größeres Ansehen genießt, dass in einem Land wie Brasilien ein Mörder, der fast 500 Menschen umgebracht hat, bis heute frei herumläuft?“

Der Verdienst lockt

Seine Jugend verbringt Júlio Santana im Amazonasgebiet, in der Nähe der Ortschaft Araguaia im heutigen Bundesstaat Tocantins. Bereits als Kind ist er ein guter Jäger, erlegt Affen, Pacas, Wildschweine oder angelt im nahegelegen Fluss Welse. Überredet von seinem Onkel, selbst ein „Pistoleiro“, begeht er 1971 mit siebzehn Jahren widerwillig seinen ersten Auftragsmord.

Zur gleichen Zeit – 1964 hatten die Militärs in Brasilien die Macht übernommen – versuchen Spezialeinheiten im Amazonasgebiet linke Regimegegner und Mitglieder der sogenannten Guerrilha do Araguaia aufzuspüren, zu foltern und zu töten. Doch sie sind bei ihrer Suche in den Wäldern auf die Hilfe Ortskundiger angewiesen.

Angelockt durch einen guten Verdienst und vermittelt vom Onkel, arbeitet Júlio Santana für die Soldaten zunächst als Fährtenleser. Als er von der Mission zurückkehrt, beginnt sein Leben als Auftragsmörder und in seinen Augen als Werkzeug – oder wie sein Onkel erklärt: „Wenn ich diese Arbeit nicht mache, macht sie ein anderer. Sterben muss der arme Mensch sowieso.“ Zehn Ave-Marias und zwanzig Vaterunser, und deine Sünden sind vergeben.

Eine einzige Festnahme

Seine Auftraggeber sind Großgrundbesitzer, Bürgermeister, Geldeintreiber genauso wie Ehemänner, Väter und Söhne. Es ist ein gutes Geschäft. Reich wird der „Pistoleiro“ trotzdem nicht. Nur ein einziges Mal, 1987, wird Santana nach einem Mord in Tocantinópolis festgenommen, kommt aber durch Abtretung seiner roten 125er Honda an den Leiter der Polizeiwache wieder frei.

Die unfassbare Biografie Santanas liest sich wie ein Roman, und die Frage ist berechtigt, ob es die adäquate literarische Form für diese Wirklichkeit ist. Trotzdem sind die detaillierten Schilderungen der Orte und Begebenheiten seiner Verbrechen und auch die Namen der Opfer, die Santana über Jahre in einem Notizbuch festgehalten hat, keine Fiktion.

Einmal, 1972, spüren die Militärs einen untergetauchten Kommunisten mit Hilfe Santanas im Amazonasgebiet auf. Es ist José Genoíno, später Abgeordneter und enger Vertrauter des (2003–11 amtierenden) Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva – 2012 allerdings vom Obersten Gericht Brasiliens wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!