Biodiversität in Kolumbien: Krieg und Frieden mit der Natur
In Kolumbien tagt die UN-Konferenz zur Biodiversität, während dort die Wälder abgeholzt werden. Das begann ausgerechnet mit dem Ausbruch des Friedens.
Die acht Zentimeter große Schönheit lebt nur an einem Ort auf dieser Welt: im Chiribiquete-Nationalpark in Kolumbien. Der Kolibri ist ein Beispiel für die einzigartige Artenvielfalt, die die Serranía de Chiribiquete im kolumbianischen Amazonasgebiet birgt. Darunter Jaguar, Puma, Tapir, Riesenotter, Wollaffe, rosa Amazonas-Flussdelfin. Viele von ihnen sind bedroht oder gefährdet. Ausgerechnet durch einen Friedensvertrag.
Kolumbien ist nach Brasilien das artenreichste Land der Welt. Kein Land hat so viele Orchideen- und Vogelarten, kein Land so viele Arten pro Quadratkilometer. Alles gute Gründe, weshalb hier noch bis 1. November die Biodiversitätskonferenz der Vereinten Nationen stattfindet. Deren Motto allerdings klingt angesichts der Entwicklung des Chiribiquete zynisch: „Frieden mit der Natur“.
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Denn dass der Chiribiquete-Nationalpark so ein Schatz der Biodiversität und des indigenen Lebens ist, hat viel mit Krieg zu tun, mit Bürgerkrieg.
Über 50 Jahre lang bekämpften sich in Kolumbien linke Guerillas, rechte Paramilitärs und staatliche Sicherheitskräfte. Über Jahrzehnte hatten sich die marxistischen Farc-Kämpfer:innen unter anderem in der Berglandschaft des Chiribiquete verschanzt. Dank des dichten Blätterdachs konnte die Armee ihre Lager nicht aus der Luft erspähen. Niemand konnte hinein, der Chiribiquete blieb über Jahrzehnte praktisch unberührt. 2016 schlossen der kolumbianische Staat und die Farc ein historisches Friedensabkommen. Doch damit kam der Krieg gegen die Umwelt in Fahrt.
Die Farc strafte Abholzung – der EMC nicht
Der Chiribiquete ist eine biogeografische Enklave. Er verbindet die Orinoco-Savanne, die Anden, das Bergland von Guayana und den Amazonas – aus all diesen Ökosystemen treffen hier Tier- und Pflanzenarten zusammen. Er liegt mitten in der Wasserfabrik Amazonas, die Regen übers ganze Land bringt. Die Wasserkrise, die seit Monaten die Hauptstadt Bogotá zur Rationierung zwingt, ist nur ein Vorgeschmack auf das, was den Menschen in Kolumbien bevorsteht, wenn es so weiter geht mit der illegalen Abholzung.
Denn nach dem Friedensabkommen von 2016 legten die Farc-Kämpfer:innen ihre Waffen nieder und wechselten ins zivile Leben. Doch der kolumbianische Staat versäumte es, in den von der Farc verlassenen Gebieten Präsenz zu entwickeln. Gerade in denen, die schwer zu erreichen sind, wie der Chiribiquete. Verbliebene bewaffnete Guerilla-Gruppen füllten das Machtvakuum, es gründeten sich sogar neue.
Rodrigo Botero, Umweltschützer
In den Chiribiquete darf auch heute bis auf Forscher:innen eigentlich niemand von außen hinein. Der Natur und der unkontaktierten indigenen Völker wegen, die dort leben. Doch eine Farc-Abspaltung namens Estado Mayor Central (EMC) und neue bewaffnete Gruppen haben sich im Nationalpark breitgemacht. Wo die Farc Abholzung bestrafte, fördert der Estado Mayor Central sie – und verdient ein Vermögen damit. Die indigenen Anführer:innen, die sich ihnen entgegenstellen, bedrohen die Guerilleros.
Ein neuer Bericht der International Crisis Group schildert das Prozedere der Guerilla detailliert: Oft zwingen bewaffnete Gruppen die Menschen vor Ort erst, Straßen zu bauen. Gerodete Parzellen an der Straße vergibt der EMC an Menschen, die er aus anderen Teilen des Landes mit dem Versprechen auf Land und Arbeit hergelockt hat. So auch im Chiribiquete.
Diese neuen Siedlungen kontrolliert der EMC von Anfang an. Die Guerilla kassiert Schutzgelder und Steuern auf alles, was dort angebaut wird – von Rindern bis Koka für Kokain. Teils als Kreislauf: Mit dem Geld aus dem Drogenhandel werden Kühe angeschafft. Die Rinderzucht um den Chiribiquete ist um mehr als 6 Millionen Tiere gewachsen, zwischen 65 und 70 Prozent der nationalen Entwaldung konzentrieren sich hier. Die Verwüstung reicht bereits bis 10 Kilometer an die Tafelberge heran, Herz des Nationalparks und Heimat des Smaragdkolibris.
Lokale Eliten und EMC arbeiten Hand in Hand
Laut der International Crisis Group bezahlen auch Politiker:innen die Guerilla fürs Abholzen. Für große Flächen braucht es Maschinen und Geld, keine einfachen Tagelöhner – dafür arbeiten lokale Eliten und EMC Hand in Hand. Ist aus Wald erst einmal Weide geworden, lassen sich für den Boden einfacher legale Landtitel eintragen, der Wert steigt für den Weiterverkauf.
„Noch nie zuvor hat Kolumbien an einem Ort eine halbe Million Hektar Land verloren, das der Allgemeinheit gehört“, sagt Rodrigo Botero, einer der renommiertesten Umweltschützer Kolumbiens und Direktor der Stiftung für Naturschutz und nachhaltige Entwicklung (FCDS), im Podcast „A Fondo“.
Luftaufnahmen vom Juli 2024 zeichnen ein erschütterndes Bild. Der Urwald ist in Nähe des Flusses Guaviare ein Flickenteppich, in den gerodete Parzellen geschnitten sind. Als runde, helle Flecken stechen die Wasserreservoirs heraus, die schon angelegt wurden, um das Vieh zu tränken. Ähnliche Bilder beim Einflug ins Nationalparkgebiet selbst: frisch gerodetes Land, teils stehen schon Kühe darauf. Dazu neue Straßen, um Kühe und Koka abzutransportieren.
Schon 2023 hatte die Zoologische Gesellschaft Frankfurt Alarm geschlagen, dass nur vier Kilometer vom Nationalpark eine neue illegale Straße gebaut wurde – mitten durch ein Indigenen-Reservat. In nur drei Monaten entstanden im einst dichtesten Regenwald über 20 Kilometer Straße. Rund 1.500 Hektar Wald wurden dafür dem Erdboden gleichgemacht. In Rekordzeit, ohne dass die Behörden es mitbekommen haben wollen.
Der Fall machte in Kolumbien Furore. Mitte August 2024 zerstörte die staatliche Armee in einer ihrer seltenen Operation im Nationalpark schließlich mehrere Straßen, Brücken und Kokaküchen. Dann waren die Soldaten schnell wieder weg.
Vertreter:innen des Staates sind „militärisches Ziel“
Die Klassifizierung „Nationalpark“ bedeutet in Kolumbien nicht unbedingt Schutz. Immer wieder werden Nationalparkwächter:innen ermordet, 2020 floh der Nationalparkdirektor der Sierra Nevada de Santa Marta ins Asyl nach Kanada. Auch in weite Teile des Chiribiquete dürfen seit 2020 keine Nationalparkwächter:innen mehr hinein, weil die bewaffneten Gruppen es verbieten. Zudem ist der Chiribiquete wie alle kolumbianischen Nationalparks chronisch unterfinanziert.
Mario Madrid, 39 Jahre alt, Leiter des Chiribiquete, ist beim Videotelefonat erst seit zwei Wochen im Amt. Es ist 7 Uhr morgens, in Florencia, wo Madrid sitzt, hat es bereits 30 Grad. Der Biologe leitet eigentlich den zweitgrößten Nationalpark des Landes – doch seit Kurzem obendrein den größten. Die eigentliche Leiterin des Chiribiquete ist krankgeschrieben.
Zwischen beiden Parks, für die Madrid verantwortlich ist, liegen 500 Kilometer Luftlinie und kein Landweg. Das ist auch gut so, sagt Madrid, denn eine Straße würde die Entwaldung fördern. Wenn er von einem Nationalparkbüro zum anderen will, fliegt Madrid erst eineinhalb Stunden nach Norden in die Hauptstadt Bogotá, dann von dort wieder eineinhalb Stunden ins südliche Amazonien. Mit dem Auto wären das um die 22 Stunden Fahrt.
„Wir arbeiten vor allem mit den Menschen in den angrenzenden Gemeinden und in der Übergangszone, also bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften“, sagt Madrid. Und mit denen, die seit den letzten Nationalparkerweiterungen möglicherweise plötzlich im Schutzgebiet leben. Im Dialog mit den Anwohnenden sieht Madrid das wichtigste Werkzeug. Oft lassen die Parkwächter:innen dafür die Uniform daheim, um die Menschen vor Ort nicht zu gefährden. Vertreter:innen des Staats haben die bewaffneten Gruppen in einigen Gegenden zum „militärischen Ziel“ erklärt.
„Die anwohnenden Gemeinschaften wollen den Park schützen“, sagt Mario Madrid. „Aber der Staat muss sie dabei begleiten.“ Nicht nur das Umweltministerium, sondern auch das Landwirtschaftsministerium müsse sie mehr unterstützen – finanziell und mit Bildung. Für eine Entwicklung, die besser an die Amazonas-Region angepasst sei. Zum Beispiel mit dem Anbau der Acai-Beere oder sanftem Tourismus.
Eine Militarisierung des Nationalparks lehnt Madrid ab. Er wünscht sich aber ein mobiles Bataillon, das die Bevölkerung, wenn Druck auf sie ausgeübt wird, verteidigt.
„Unsere beste Waffe ist, mit den Menschen zu sprechen, in ihnen ein Bewusstsein zu schaffen, damit sie sich in den Park verlieben“, sagt Madrid. Sprechen, zum Beispiel über Wasser – und die Dürre in anderen Landesteilen wegen der Klimakrise. Die Bauern und Bäuerinnen sind dankbar, noch Regen zu haben. „Sie wissen, dass das so ist, weil sie an einem Schutzgebiet leben.“ Das sei ein guter Anknüpfungspunkt für den Dialog.
„Paz con la naturaleza“, Frieden mit der Natur
Derzeit hat der Chiribiquete-Park inklusive Leiter 39 Mitarbeiter:innen – ein Drittel des Personals, das nötig wäre, sagt Mario Madrid. Das Jahresbudget beträgt dieses Jahr umgerechnet 1,8 Millionen Euro. „Da muss man kreativ werden. Noch dazu, da wir mitten in einem historischen Konflikt arbeiten.“ Zum Vergleich: Der Nationalpark Bayerischer Wald hat mit seinen rund 25.000 Hektar rund 230 Angestellte und rund 31 Millionen Euro Budget.
Immerhin bekommt der Chiribiquete seit Kurzem etwas zusätzliches Geld aus Deutschland. Das deutsche Entwicklungsministerium unterstützt den Park seit April 2024 über seinen „Legacy Landscapes Fund“. In Partnerschaft mit der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt und der britischen Arcadia-Stiftung soll es 1 Million Dollar jährlich geben, für mindestens 30 Jahre. Wenn es aber im jetzigen Tempo mit der Abholzung weitergeht, kann sich die Bundesregierung einen Großteil davon sparen. Denn dann könnte es den Chiribiquete schon in 10 Jahren nicht mehr geben. Weil dann auch im Herzen des Parks Kühe stehen könnten.
Dabei gab es zwischenzeitig sogar Hoffnung. 2022 wurde Kolumbiens erster linker Präsident gewählt, Gustavo Petro. Er hat sich Umweltschutz und eine Energiewende auf die Fahne geschrieben. Unter seiner Regierung sank die Abholzungsrate 2023 um 36 Prozent – so viel wie noch nie seit der Aufzeichnung. Denn Petros Regierung verhandelte damals mit den bewaffneten Gruppen über einen „totalen Frieden“ und hatte den EMC-Chef Iván Mordisco gebeten, die Abholzung als Zeichen des guten Willens zu bremsen. Die EMC-Verhandlungsführer brachten sogar ins Spiel, sich bei erfolgreichen Gesprächen eine Rolle im Umweltschutz als eine Art staatlich gebilligte Waldwächter vorstellen zu können. Präsident Petro lud derweil die Artenschutzkonferenz der Vereinten Nationen nach Kolumbien ein, das Signal schien perfekt: „Paz con la naturaleza“, Frieden mit der Natur.
Doch Bram Ebus, ein auf Umweltverbrechen und Amazonas spezialisierter Journalist und Forscher, warnte schon damals, sich auf den EMC zu verlassen: „Wenn nur die Guerilla die Abholzung reguliert und der Staat nicht eingreift, um diese verlassenen Waldgebiete zu kontrollieren, kann die Guerilla die Umwelt als Verhandlungsmasse nutzen und tatsächlich Schaden anrichten, wenn die Verhandlungen scheitern.“ Die bewaffnete Gruppe könne die Regierung sogar erpressen.
Als die Verhandlungen der Regierung mit Mordisco liefen, verbot der EMC die Abholzung unter hohen Strafen. Das schlug sich in den Zahlen positiv nieder. Als der EMC den Verhandlungstisch verließ, schnellte die Abholzung wieder hoch – im ersten Quartal 2024 um 40 Prozent.
Prominente Unterstützung aus Hollywood
Im Vorfeld der Biodiversitätskonferenz in Cali verkündete EMC-Chef Mordisco zunächst eine Waffenruhe. Doch nach einer Militäroperation gegen den EMC in der Region Cauca eine Woche vor Konferenzbeginn, schrieb er auf X: „Angesichts des Krieges, mit dem sie auf unsere Willensbekundung für den Frieden reagieren, fordern wir die Delegierten der nationalen und internationalen Gemeinschaft auf, nicht an dieser Veranstaltung teilzunehmen.“ Das ist Kolumbianisch für drohen.
Und tatsächlich kam es am Montag, kurz nach der Eröffnung der UN-Artenschutzkonferenz in Cali, zu zwei Anschlägen im entfernten Umfeld. Nach Angaben der staatlichen Behörden waren es EMC-Rebellen, die ein Militärfahrzeug mit einer Sprengladung angriffen und drei Zivilist:innen erschossen. Was lässt sich angesichts dieser Lage überhaupt noch für Kolumbiens Wälder tun?
Die International Crisis Group rät, die Regierung solle die Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen fortsetzen und so Wege zur Eindämmung der Entwaldung finden. Sie solle aber auch ihre staatliche Autorität im Amazonasgebiet geltend machen. Dafür müsse sie Erwerbsmöglichkeiten fördern, die der Umwelt nicht schaden. Und: ihre Sicherheits-, Friedens- und Umweltpolitik besser koordinieren.
Umweltschützer:innen setzen ihre Hoffnung auch auf einen Gesetzentwurf zur Rückverfolgbarkeit von Rindfleisch. Derzeit gibt es den zweiten Anlauf für das Gesetz, hinter dem federführend zwei Abgeordnete stecken: die ehemalige Leiterin der Nationalparkbehörde und ein liberaler Tierschützer. Mittlerweile ist selbst der mächtige, rechtskonservative Verband der Rinderzüchter für das Gesetz.
Wohl auch aus Sorge um den Markt: Fleisch aus illegal abgeholzten Amazonas-Wäldern wie dem Chiribiquete landet in den großen Supermarkt-Ketten in der Hauptstadt – und möglicherweise im Ausland. Das stößt immer mehr Kolumbianer:innen auf. Die EU will zudem mit ihrem Lieferkettengesetz Nachweise verlangen, dass das importierte Rindfleisch ohne Abholzung produziert wurde.
Außerdem hat der Gesetzentwurf Unterstützung aus Hollywood – von Leonardo DiCaprio. „Kolumbien kann Geschichte für den Amazonas schreiben mit seinem Entwaldungsgesetz“, schrieb der Schauspieler in den sozialen Medien. „Das Gesetz über die Rückverfolgbarkeit von Rindern ohne Abholzung würde einen enormen Fortschritt für den Schutz lebenswichtiger Orte wie den Nationalpark Chiribiquete bedeuten.“ Das riesige Medienecho, das auf DiCaprios Wortmeldung folgte, könnte tatsächlich dazu führen, dass das Gesetz Mitte 2025 verabschiedet wird. Allein: Es muss auch durchgesetzt werden.
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