Bill Kaulitz über seine Autobiografie: „Ich wurde mit Steinen beworfen“
Bill Kaulitz wurde mit der Band Tokio Hotel berühmt. In seiner Autobiografie blickt der heute 31-Jährige zurück auf das Leben als Teenie-Star.
taz: Bill Kaulitz, Sie waren schon als Teenager ein Superstar, haben mit Ihrer Musik alles erreicht, was man erreichen kann. Fällt es Ihnen schwer, noch einen Sinn in Ihrem Leben zu finden?
Bill Kaulitz: Ach, ich glaube, mein Leben ist noch nicht auserzählt. Ich finde immer etwas Neues: den nächsten guten Song, den ich schreiben will, die nächste Tour, die noch geiler sein soll, das tolle Kostüm, das ich tragen will. Ich gucke selten zurück – zum ersten Mal eigentlich, als ich das Buch geschrieben habe. Aber ich bin niemand, der sich auf Erfolgen ausruht.
Sie schreiben in Ihrem Buch, in Ihrer Kindheit und Jugend hätten Sie täglich Angst gehabt und massive körperliche Gewalt erfahren, durch Mitschüler:innen, Lehrer:innen, Nachbar:innen. Der Alltag habe einem Kampf ums Überleben geglichen. Ist das übertrieben?
Es war tatsächlich so krass, wie ich es schildere. Für uns war Rausgehen wie in den Krieg zu ziehen. Mein Bruder und ich sind natürlich auch extrem aufgefallen. Wir waren keine ruhigen, zurückhaltenden Kinder. Dadurch haben wir es uns nicht gerade leicht gemacht.
Wie sehr hat diese Angst Sie geprägt?
Es gibt ja viele Leute, die sich immer mit ihrer Kindheit entschuldigen. Aber umso älter ich werde, umso mehr merke ich, was mir von damals immer noch in Erinnerung geblieben ist, was ich zum Teil jetzt erst verarbeiten kann. Wenn ich heute gucke, wie jung ich damals war, was für ein kleines Kind ich auf manchen Fotos bin, dann berührt mich das heute viel mehr, zu wissen, dass ich mit Steinen beworfen wurde, als damals im Moment selbst.
Wenn Sie die Wahl gehabt hätten: Wären Sie lieber in einem bürgerlichen Milieu aufgewachsen?
Ich gucke mir manchmal schon so spießige Familien an: Mama und Papa sind verheiratet und sind seit 45 Jahren glücklich und die wohnen in einem schönen Haus mit Garten. Klingt erst mal idyllisch! Aber wahrscheinlich wäre ich eingegangen vor Langeweile. Und heute bin ich wahnsinnig stolz darauf, wo ich herkomme. Das war schließlich der Motor in meinem Leben. Ich hätte sonst wahrscheinlich nie eine solche Karriere gehabt.
31, wurde als Teenie-Sänger der Band Tokio Hotel berühmt. 2010 zog Kaulitz wegen zunehmendem Stalking von Fans nach L. A. Seine Autobiografie „Career Suicide“ erschien am 1. Februar im Ullstein Verlag.
Aber auch so sei Ihnen als Jugendlicher in Magdeburg und im kleinen Dorf Loitsche in Sachsen-Anhalt geradezu sterbenslangweilig gewesen, schreiben Sie. Dabei haben Sie mit 13 Speed genommen und Ihr Bruder hatte Sex im Altpapiercontainer?
Tja, wir haben uns halt gut beschäftigt! Und, na ja, es gab halt auch nicht viel zu tun. Wir konnten nichts Besseres mit unserer Zeit anfangen, als rumzufummeln und Drogen auszuprobieren.
Sie schreiben auch: „Drogen machen hässlich.“ Dafür haben Sie aber schon als Kind eine ganze Menge konsumiert.
Da muss man dann rechtzeitig den Absprung finden. Aber diese Angst ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich nie abhängig geworden bin. Nachher fallen mir noch Haare und Zähne aus!
Sie hätten sich schon immer anders gefühlt, schreiben Sie, Mädchenkleider getragen, mit Jungen geknutscht. Immer wieder deuten Sie auch später im Buch Ihre Queerness an. Und mit Ihren Bühnenoutfits sprengten Sie die Geschlechtergrenzen ohnehin. Klar outen wollten Sie sich aber nie. Warum so verdruckst?
Ich finde diese ganze Diskussion so unnötig. Bei uns zu Hause gab es keine Verbote oder Tabus. Und ich musste mich nie in irgendeiner Form rechtfertigen. Darum habe ich nie verstanden, warum Leute mir das später dann abverlangt haben. Für mich ist das Leben so viel komplexer, als man es durch so ein Outing ausdrücken kann.
Folgen Sie aber damit nicht immer noch den Regeln des Musikgeschäfts: sich bloß nicht zu eindeutig äußern? Ist es nicht Zeit, damit zu brechen?
Im Gegenteil! Es langweilt mich schon fast, wie viele Musiker sich heutzutage outen. Gefühlt alle sagen: Och, ich könnt’s mir auch mal mit ’nem gleichgeschlechtlichen Partner vorstellen. Das ist inzwischen so penetrant, dass ich oft schon daran zweifele, dass die das überhaupt ernst meinen. Viel spannender ist doch der Sport: Fußballer, Rennfahrer, Boxer. Da würde mich das Privatleben viel mehr interessieren. Man kann ja nicht im Ernst glauben, dass es keine queeren Profisportler gibt.
Welche Verantwortung empfinden Sie für LGBT-Fans, die sich Tokio Hotel zum Vorbild nehmen? Sie spielen ja sogar im homophoben Russland Konzerte und ziehen Leute an.
Für mich sind solche Fans das schönste Kompliment überhaupt. In Russland etwa gibt es Jungs oder Männer, die mit High Heels und glitzerndem Outfit kommen und dann erzählen: Die hole ich nur einmal im Jahr raus, nämlich für euer Konzert. Natürlich würde ich mir wünschen, die könnten das viel öfter tun. Wenn ich zurückgucke in meine Jugend, weiß ich, wie wichtig David Bowie, Prince und Nena für mich waren, welches Selbstbewusstsein die mir gegeben haben, wie die mich haben träumen lassen von einer Welt, die über die Kali-Berge in Loitsche hinausgeht.
Ihre Band sei „zu Botschaftern der Missverstandenen und Selbstmordgefährdeten“ geworden, schreiben Sie im Buch. Wie sind Sie damit umgegangen?
Früher konnte ich diese Eindrücke gar nicht an mich ranlassen. Die habe ich dann professionell weggelächelt. Heute, als Erwachsener, halte ich mehr aus. Wenn Fans vor mir stehen, weinen und mir tragische Geschichten erzählen, dann kann ich mich davon ganz anders berühren lassen.
Wo ist die Grenze zwischen solch intensiver Bewunderung und Stalking, wie Sie und Ihre Bandkollegen es ja auch erlebt haben?
Die anfängliche Bewunderung für uns ist bei einigen Fans umgeschlagen in so eine Abartigkeit, ein Nicht-teilen-Können. Wir wurden quasi rund um die Uhr überwacht, die haben uns nicht erlaubt, ein Leben ohne sie zu führen. Deren Motto war: Ihr habt euch für dieses Leben entschieden und wir haben ein Recht darauf, an jedem Schritt teilzuhaben. Das ist ein Phänomen, das schon im Kleinen anfängt. Am Flughafen zum Beispiel. Wenn wir mal keine Autogramme gegeben haben, schrien Leute: „Ich hab’ aber Eure CD gekauft!“ Die denken, sie besitzen dann auch uns.
Warum verraten Sie so viele Interna aus dem Musikgeschäft, zum Beispiel, wie Sie bei Ihren Verträgen über den Tisch gezogen wurden? Ist das nicht career suicide?
So viel zu erzählen ist natürlich ein absolutes No-Go. Aber wir leben inzwischen in einer so offenen Welt, da muss das einfach mal raus. Einige der Genannten arbeiten ja noch in dem Business und die müssen damit konfrontiert werden. Wenn ich schon zurückgucke, will ich auch ehrlich sein.
Ist Ihnen inzwischen egal, was die „Bild“-Zeitung über Sie schreibt?
Total. Ich rede schon viele Jahre nicht mehr mit denen.
2020 veröffentlichten Sie ein aktuelles Musikvideo zu Ihrem Hit „Durch den Monsun“ unter dem Titel „Durch den Monsun 2020“. Nerven die alten Lieder nicht irgendwann?
Überhaupt nicht! Der Song wird für mich das Ticket sein, das mich aus dieser Welt heraus in meinen Traum gebracht hat.
Es gab viel Kritik am Format „Queen of Drags“ Ihrer Schwägerin Heidi Klum, in dem auch Sie in der Jury sitzen: Sie habe eigentlich keine Ahnung und beute Drag nur aus, weil Drag durch „Ru Paul’ s Drag Race“ gerade beliebt ist. Sie haben damals Unverständnis darüber geäußert und mehr Dankbarkeit aus der Drag-Community eingefordert. Sehen Sie das immer noch so?
Absolut! Durch diese Aussagen hat sich die Szene selbst ein Bein gestellt. Das kann doch nicht wahr sein, dass man was dagegen hat, wenn ein heterosexueller Superstar Drags eine Bühne bietet und sie wegen ihrer Sexualität ausschließt. Genau die Menschen, die selbst Toleranz von anderen erwarten. Ich glaube, die meisten der wenigen Kritiker schämen sich dafür inzwischen, denn es war eine super Show, wir haben mega Feedback darauf bekommen.
Aber Heidi Klum ist nun einmal reich, berühmt, mächtig – und heterosexuell. Wie soll ihr diese Kritik da ernsthaft schaden können?
Das ist doch trotzdem diskriminierend. Dürfen etwa nur bestimmte Leute Dragqueens bewerten? Da isoliert man sich doch und grenzt sich selbst aus. Das ist doch genau das Schubladendenken, das wir eigentlich ablehnen.
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