Bildungsmisere in Deutschland: Wo bleibt der Wumms?
Die Schulen könnten nach dem jüngsten Pisa-Schock wieder mal den Notstand beschreiben. Oder endlich ein Zeichen setzen und den Laden schließen.
A lle Jahre wieder wird die Bildungskatastrophe entdeckt, beschworen – und wieder vergessen. Von Jahr zu Jahr wird es schlimmer. Dieses Mal besonders schlimm. Die Pisa-Ergebnisse, schlechter noch als die von 2001, werden wie alle Jahre wieder mit einschlägigen Zahlen über funktionalen Analphabetismus, die horrende Zahl der fehlenden und teilzeitbeschäftigten Lehrer und die endemische Unfähigkeit, Dollar in Euro umzurechnen, garniert. Und alle Jahre wieder kann man auf den hinteren Seiten der Qualitätspresse lesen, dass wir eine „neue Vision davon, was die Schule überhaupt ist“, brauchen. Diesmal plädiert der Bildungssoziologe Aladin El-Mafaalani, wieder einmal, für eine Ganztagsschule, die in der Lage ist, „Familienersatz“ zu sein. Nicht nur, weil viele Familien es nicht schaffen, ihren Kinder beim Lernen zu helfen, sondern auch zunehmend unter „Erziehungsschwäche“ leiden, beim Vermitteln von Normen, Weltkenntnis, sozialen Kompetenzen, Motivation und Umgangsformen versagen.
Der Gedanke ist nicht neu. Schon in den fünfziger Jahren plädierte der eher konservative Soziologe Helmut Schelsky für eine Schule, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern „erzieht“ – eine Horrorvorstellung für Antiautoritäre wie für Besitzstandskonservative. Wenn die Großfamilie zerfalle und die Religiosität verblasse, müsse die Schule zur „Neben- und Parallel-Organisation des Elternhauses“, ja zu einer „Gegenstruktur“ werden: gegen den Realitätsverlust durch Arbeitsteilung und Medien ein Bewusstsein für die Komplexität der Gesellschaft vermitteln, ja gegen den „Konsumterror“ die Kräfte der Selbstbestimmung stärken.
Lange vor Markenwahn und Tiktok entwarf Schelsky die Skizze einer Schule, die sehr viel intensiver mit den Elternhäusern kooperiert ebenso wie mit den Betrieben der Gemeinde, und das in einer damals noch ethnisch relativ homogenen Nation mit ansteigendem Wachstum und halbwegs konturierten politischen Parteien und Gewerkschaften. Umso dringlicher wird diese Idee heute: in einer mit Wachstumsschwäche und Klimawandel konfrontierten Gesellschaft, in der es statt um Konsumsteigerung darum geht, Bestände neu zu verteilen, in der technologische Umwälzungen tief in das Leben der Einzelnen eingreifen, alle Welt nach Zusammenhalt ruft und der Anteil der 15-Jährigen mit Migrationsfamilie seit 2000 von 22 auf 39 Prozent gestiegen ist.
Es geht um mehr als Chancengleichheit
Dazu kommt noch, als neueste Aufgabe, die Forderung an die Schule, Wahrheitsinstitution zu sein in einer Medienwelt, die Jugendliche mit Fake News, Deepfakes, ungedeckten Behauptungen und Grobianismen, Irrationalität und den schrillen Lockungen von Influencern überschwemmt, in der die Rhythmen von Tiktok die Aufmerksamkeitsfähigkeit angreifen.
Bei alldem geht es um mehr als „nur“ um Chancengleichheit und endemische Verdummungsgefahr. In England schlug gerade die oberste Bildungsinspektorin des Landes Alarm. Nach Corona und der Phase des Homeschoolings sei der Schulbesuch in vielen gesellschaftlichen Milieus nicht mehr selbstverständlich und zwingend. Es sei eingerissen, dass Kinder zu Hause bleiben, wie und wann es ihnen oder den Eltern passt, Influencer würden gegen Lehrer ausgespielt, Eltern auf Hinweise der Lehrer aggressiv reagieren.
Eine Folge davon sei, dass es in prekären Milieus keine gesellschaftliche Instanz mehr gibt, um die herum die Tagesroutinen von Erwachsenen und Kindern organisiert sind. Prekär seien allerdings auch Mittelschichtseltern, die ihre Kurzreisen frei gestalten wollen.
Recht auf Mindeststandard von Bildungsangeboten
Wenn die öffentliche Schule nicht mehr als zentrale Institution der Gesellschaft anerkannt werde, entstehen Lücken im sozialen Gewebe, in die hinein dann bestenfalls die telematische Bildungsindustrie, schlimmstenfalls die populistische Presse einrücken kann. Gleichzeitig zu den Pisa-Brandmeldungen lese ich denn auch, dass gerade Millionen an Venture-Kapital in Plattformen investiert werden, auf denen unterbezahlte und scheinbeschäftigte Lehrkräfte Nachhilfe geben und Motivation vermitteln, mit Gewinnspannen für die Plattformbetreiber, die in keiner Industrie mehr zu erzielen sind, zu Preisen, die sich allenfalls die Mittelschicht leisten kann – und dass Bild und Chat-GPT demnächst kooperieren werden.
Unser Verfassungsgericht hat vor zwei Jahren ein neues Recht proklamiert: auf den „unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten“, welcher die „Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu Persönlichkeiten ermöglicht, die ihre Fähigkeiten und Begabungen entfalten und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können“. Das Urteil blieb ohne größere Resonanz.
„Die wiederholte Feststellung des Bildungsnotstands erzeugt nicht mehr Druck, sondern mehr Gewöhnung.“ Schreibt der ehemalige Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles, und weiter: „Ein „Notstand“ ist ein juristischer Begriff und ein Rechtfertigungsgrund. (…)
Zeit für zivilen Ungehorsam
Wenn die Politik auf den Bildungsnotstand und den anhaltenden Protest der Zivilgesellschaft nicht reagiert, dann kann es Zeit für neue Formen des zivilen Ungehorsams sein. Wenn eine Schule ihrem grundgesetzlichen Auftrag nicht mehr nachkommen kann, dann kann sie zum wiederholten Male den Notstand beschreiben. Sie könnte aber auch ein Zeichen setzen und den Laden schließen.“
Ein wochenlanger Streik der Lehrer für einen Bildungswumms, Montagsdemonstrationen vor Kultusministerien, Flashmobs von Eltern in Schulen – man könnte sich da vieles denken. Dass mir so etwas so unwahrscheinlich vorkommt wie das Erreichen der Klimaziele, und dass man sich mit solch flammenden Appellen eher zum Gespött zu machen fürchtet – das verweist mich auf die furchtbare Erkenntnis, dass es ohne Zusammenbruch noch nie einen Systemwechsel gegeben hat.
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