Bildungsministerin über Personalmangel: „Die Last auf alle verteilen“
In Sachsen-Anhalt sollen Lehrkräfte ab März eine Stunde mehr unterrichten. Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) verteidigt das – als „Vorverlagerung“ von Arbeit.
taz: Frau Feußner, in diesem Schuljahr ist die Unterrichtsversorgung in Sachsen-Anhalt auf einen historischen Tiefstand gerutscht, besonders viele Lehrkräfte stehen kurz vor der Pension und bei der Digitalisierung landen Ihre Schulen im Ländervergleich auf dem vorletzten Platz. Wo möchten Sie am Ende Ihrer Amtszeit stehen?
Eva Feußner: Die Situation in Sachsen-Anhalt ist tatsächlich nicht ganz unkritisch. Bei der Digitalisierung sind die Mittel vom Digitalpakt weitestgehend bewilligt, aber bei der Umsetzung hakt es. Teilweise finden die Träger vor Ort auch keine entsprechenden Firmen. Immerhin haben wir jetzt so gut wie alle Schulen ans Glasfasernetz angeschlossen, da sind wir bundesweit an der Spitze.
Und bei den Personalsorgen?
Die Altersstruktur unserer Lehrkräfte wird uns natürlich noch ein paar Jahre herausfordern. Um die Lücke zu schließen, die die Pensionierungen nach sich ziehen, haben wir in den vergangenen Jahren viele junge Lehrkräfte eingestellt und die Plätze für das Lehramtsstudium an den beiden Universitäten des Landes von 600 auf 1200 stark erhöht. Die niedrige Unterrichtsversorgung von 93,5 Prozent ist natürlich alles andere als zufriedenstellend. Mein Ziel ist es weiterhin, eine Unterrichtsversorgung von mindestens 100 Prozent zu erreichen. Dafür haben wir entsprechende Maßnahmen ergriffen.
Eine dieser Maßnahmen verdonnert alle Lehrkräfte ab Mitte März zu einer Stunde mehr Unterricht pro Woche – viele Lehrer:innen empfinden das als Zumutung, nicht nur in Sachsen-Anhalt. Was entgegnen Sie?
Das volle Verständnis habe ich auch nicht erwartet, das sage ich Ihnen ganz offen und ehrlich. Es handelt sich aber nicht um eine Erhöhung der Arbeitszeit, sondern um eine Vorverlagerung. Die Lehrkräfte können sich die Mehrstunden ausbezahlen lassen oder später in Freizeit ausgleichen. Wir haben auch die Unterrichtsverpflichtung mit der in anderen Bundesländern verglichen. Bei uns liegt sie, etwa im Vergleich zu den westdeutschen Ländern, relativ niedrig. Daher muss ich um Verständnis bitten. Wir haben auch eine Verpflichtung gegenüber den Schülerinnen und Schülern, ihnen die bestmögliche schulische Ausbildung zu ermöglichen.
Eva Feußner, 59, ist seit 2021 Bildungsministerin des Landes Sachsen-Anhalt. Die CDU-Politikerin ist ausgebildete Diplomlehrerin für Mathematik, Physik und Astronomie.
Vom Personalmangel sind vor allem Grund- oder Hauptschulen auf dem Land betroffen. Sie haben angekündigt, Gymnasiallehrkräfte für die Extrastunde an andere Schulen abordnen zu wollen. Wie soll das konkret funktionieren?
Auch in der Schulform des Gymnasiums können bereits nicht mehr alle Bedarfe ausbildungskonform besetzt werden. Insofern müssen wir vor Ort mit den Schulleitern und den Lehrkräften besprechen, wer überhaupt an eine andere Schule abgeordnet werden kann. Wir haben aber auch die Möglichkeit, für Abordnungen Zulagen zu zahlen. Wenn sich zum Beispiel ein Gymnasiallehrer freiwillig verpflichtet, für eine längere Zeit in eine Schule zu gehen, die überdimensional hohen Mangel hat, kann er mehrere Zulagen erhalten. Ich bin optimistisch, dass wir von der Vorgriffstunde profitieren werden. Wirkungsvolle Ergebnisse werden wir aber wahrscheinlich erst zum neuen Schuljahr erzielen können.
Es gibt Stimmen, die sagen: Es ist wahrscheinlicher, dass Sie Krankschreibungen erhalten werden denn zusätzlichen Unterricht.
Ich finde es hochproblematisch, wenn Angestellte oder Beamte im öffentlichen Dienst eine Krankschreibung mit Ansage machen. Natürlich kann es sein, dass die eine oder andere Lehrkraft wirklich sehr belastet ist. Da vertraue ich auf das Fingerspitzengefühl unserer Schulleitungen.
Aber wie soll das klappen: Überlasteten Lehrkräften noch eine Stunde mehr aufbrummen und Sie gleichzeitig vor Burnout schützen? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) hat kürzlich angemahnt, dass die Länder die Gesundheitsvorsorge für Lehrkräfte ernster nehmen müssen.
Das tun wir auch. Vor kurzem haben wir für alle Schulen einen Gesundheitspräventionstag eingeführt, an dem Lehrkräfte während der Schulzeit teilnehmen. An diesem Tag sollen die Beschäftigten zum Themenfeld Arbeits- und Gesundheitsschutz sensibilisiert, beraten und informiert werden. Ich sehe auch, dass die Schulen in den letzten Jahren immer mehr Aufgaben übernehmen mussten. Vielleicht müssen wir uns als Gesellschaft auch die Frage stellen, was Schule alles leisten muss und kann und was nicht.
Viele Lehrkräfte springen tagtäglich für kranke Kolleg:innen ein oder übernehmen freiwillig ein anderes Fach. Haben Sie keine Sorge, dass Sie engagierte Lehrkräfte mit Ihrer Zwangsmaßnahme vergraulen – und nun häufiger Dienst nach Vorschrift erhalten?
Es ist eben genau das große Ziel, die Last auf alle Schultern zu verteilen, um diejenigen, die bereits jetzt sehr viel mehr leisten, nicht überzustrapazieren.
Der Jenaer Sozialwissenschaftler Roland Merten hat kürzlich behauptet, es gäbe gar keinen Lehrer:innenmangel. Man müsse nur den Lehrkräften die Abminderungsstunden für Klassenleitung oder Einarbeitung für Referendare streichen, dann wäre der Unterricht schon gesichert. Überzeugt Sie diese These?
Jein. Rein theoretisch stimmt das: Würde ich alle Abminderungsstunden streichen, hätte ich rein rechnerisch eine Unterrichtsversorgung von 100 Prozent. Jetzt sind wir aber wieder bei der Lastenverteilung. Ich kann nicht nur diejenigen belasten, die ohnehin schon wichtige Aufgaben neben dem Unterricht übernehmen. Dieser Vorschlag bringt uns also nicht weiter. Wir sollten Lehrkräfte eher von bürokratischen Aufgaben entlasten. In der vergangenen Legislatur haben wir ein Modellprojekt mit Schulverwaltungsassistenten gestartet, heute haben wir dafür 50 Stellen im System. Bei mehr als 800 Schulen ist das erst mal ein geringer Anteil. Aber das Programm wollen wir ausbauen.
Bildungsforscher:innen empfehlen zur Sicherung des Unterrichts, weniger Lehrkräften Teilzeit zu gewähren. Sachsen und Nordrhein-Westfalen planen zum Sommer entsprechend striktere Regeln. Was halten Sie von dieser Maßnahme?
In Sachsen-Anhalt können wir darüber nicht viel drehen, denn wir haben bereits die geringste Teilzeitquote aller Bundesländer und sind schon sehr restriktiv. Wir gewähren Teilzeit im Grunde nur für die Betreuung und Pflege von Kindern oder im häuslichen Umfeld und aus gesundheitlichen Gründen – so wie es das Bundesgesetz vorsieht.
Sie versuchen jetzt schon vieles, um an neue Lehrkräfte zu kommen: Sie setzen Headhunter ein, erlauben Masterstudierenden, regulär vor der Klasse zu stehen, und locken neuerdings angehende Lehrkräfte mit Stipendien auf Land. Wie erfolgreich sind die Maßnahmen bisher?
Für manche unserer Maßnahmen sind wir belächelt worden. Vor allem die Idee mit den Headhuntern. Heute kann ich sagen: Das hat sich wirklich gelohnt. Bisher haben wir auf diesem Weg über 90 Lehrkräfte eingestellt. Bei 1000 bis 1200 Einstellungen inklusive Seiteneinsteigern im Jahr ist das schon eine ordentliche Größe. Deshalb nehmen wir noch mal mehr Geld für die Rekrutierung von Lehrkräften in die Hand und werden in einem nächsten Schritt Lehrkräfte auch weltweit rekrutieren.
Aber dennoch reicht das nicht, um Ihre Bedarfe zu decken.
Leider nein. Zurzeit haben wir knapp 850 nicht besetzte Stellen. Uns hängt bis heute nach, dass wir nach der Wende zu viele Lehrkräfte hatten und deshalb bis Mitte der 2000er Jahre zu wenige Personen eingestellt haben. Diese Lücken können wir nicht so schnell aufholen.
Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Zahl der Lehramtsstudierenden trotz steigender Studienplätze kontinuierlich abnimmt. Muss der Umkehrschluss nicht lauten: Wir machen den Beruf wieder attraktiver!
Das ist eine schöne These. Ich würde entgegnen: Wir haben ein demografisches Problem. Es fehlen ja nicht nur Lehrer. Es fehlen Ingenieure, Pflegekräfte, Ärzte. In Sachsen-Anhalt haben wir 5.600 Abiturienten im Jahr – und von denen sollen allein 1.200 Lehramt studieren? Wie soll das gehen? Dieses demografische Problem müssen wir gesamtgesellschaftlich angehen.
Wie denn?
Zum Beispiel, indem man das Lehramtsstudium praxisnah gestaltet. Aktuell sitzen angehende Lehrkräfte und Mathematikstudenten gemeinsam in der Vorlesung. Für die Grund- und Sekundarschulen ist dieser wissenschaftliche Anspruch viel zu hoch. Wir müssen uns orientieren an dem, was Lehrkräfte wirklich brauchen – und das ist vor allem Praxisorientierung. Deshalb testen wir ab dem Wintersemester 23/24 ein duales Studium. Dabei werden die Anwärter sofort beim Land angestellt und kommen früher mit Schülerinnen und Schülern in Kontakt.
Für die hohen Abbrecherquoten muss es doch noch andere Gründe geben. An der Uni Halle, wo in Sachsen-Anhalt der Großteil der Lehrkräfte ausgebildet wird, schließt nicht mal mehr jeder Zweite das Studium ab. Was ist Ihre Erklärung?
Die Universität arbeitet gerade daran, die genauen Gründe dafür herauszufinden. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Pandemie hierbei eine Rolle gespielt hat. Die hohe Abbrecherquote macht aber auch mir Sorgen. Wir müssen das Studium wieder attraktiver machen, etwa indem wir neue Fächerkombinationen zulassen und auch die Werbung für das Lehramt intensivieren. Mit unserem Weltenretter-Stipendium fördern wir jetzt angehende Lehrkräfte mit 600 Euro im Monat, wenn sie dafür später für eine gewisse Zeit in einer Bedarfsregion arbeiten.
Angenommen, Ihre Maßnahmen fruchten nicht und die Unterrichtsversorgung verschlechtert sich weiter: Kommt dann im kommenden Schuljahr flächendeckend die Viertagewoche, die Sie gerade an zwölf Modellschulen testen?
Zunächst müssen wir die Erfahrungen der beteiligten Schulen auswerten und gucken, was funktioniert und was nicht. Da gibt es ja sehr unterschiedliche Modelle. Die einen machen am fünften Tag einen Praxistag, andere hybride Angebote oder mehr Selbstlernzeiten. Andere haben vor allem die Unterrichtsstunden neu verteilt. Ob davon etwas für den flächendeckenden Einsatz in Frage kommt, kann ich jetzt noch nicht sagen. Fragen Sie im neuen Schuljahr noch einmal nach.
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