Bilanz einer Radsport-Saison: Reife Entscheidung
Tour-Siegerin Kasia Niewiadoma verzichtet auf die Titelverteidigung bei der Gravel-WM. Mit dem Sieg im Vorjahr nahm ihre Karriere Fahrt auf.
Spannung versprechen die Rennen über aufgewühltes Erdreich und das flämische Kopfsteinpflaster rings um Leuwen aber auch in ihrer Abwesenheit. Bei den Männern macht Nimmersatt Mathieu van der Poel seine Aufwartung. Bei den Frauen wollen sowohl Straßenweltmeisterin Lotte Kopecky als auch Mountainbikeweltmeisterin Puck Pieterse ihre Regenbogentrikotsammlung erweitern.
Am vergangenen Sonntag ist Kasia Niewiadoma 30 Jahre alt geworden. Eine große Party gab es nicht, meinte sie bei einem Medientermin bei ihrem Radhersteller Canyon. Ihr steckte noch das Straßen-WM in Zürich mit Kälte und Regen in den Knochen. Und auch der Todesfall der Schweizer Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer mag ihr nicht aus dem Kopf gehen. Das Erreichen der neuen Lebensdekade scheint Niewiadoma aber entschlossener zu machen. „Ich merke, dass ich reifer und selbstbewusster geworden bin und weniger naiv. Das fühlt sich großartig an“, sagte sie der taz.
Auch als Sportlerin werde sie davon profitieren, glaubt sie. In Rennsituationen reagiere sie inzwischen weniger konfus. „Und dass ich 30 geworden bin, bedeutet eben, dass ich mehr will vom Leben“, sagt sie. Das bedeutet, „höhere Ziele und ganz vorne zu sein“ im Sport, aber eben auch eine bessere Work-Life-Balance. In Sachen Gravel-WM heißt das Verzicht. Der Kurs in Belgien ist der kletterstarken Polin zu flach. „Nicht sehr unterhaltsam“, findet sie die Strecke. Vor allem aber will sie durchschnaufen nach einer anstrengenden Saison.
Der große Höhepunkt war natürlich die Tour de France. In einem der dramatischsten Rennen im Radsport überhaupt behauptete sie im Anstieg nach L’Alpe d’Huez die Gesamtführung und siegte in der Gesamtwertung mit der Winzigkeit von vier Sekunden Vorsprung. Zunächst konnte sie eine Attacke von Demi Vollering nicht parieren. „Ich war am Anstieg davor, am Col du Glandon, so konzentriert darauf, an Demis Rad zu bleiben, dass ich den Punkt Essen unterschätzt habe. Als sie antrat, hatte ich einfach nichts zum Gegensetzen. Mein Körper war leer. Und das hat mich auch mental beeinflusst. Aber dann konnte ich wieder etwas zu mir nehmen, merkte, dass mein Körper gut reagiert und begann daran zu glauben, dass alles noch möglich ist“, blickt sie zurück.
Drama für das Wachstum
L’Alpe d’Huez war Schauplatz eines Sportthrillers. Und dass Niewiadoma danach in Siegerpose ihr gelb lackiertes Rad am Zielstrich in den Himmel hob, löste in Koblenz natürlich Jubel aus. „Es war einfach inspirierend, wie sie gewonnen hat. Und ich denke, diese vier Sekunden, diese Dramatik, werden den Frauenradsport nur noch schneller wachsen lassen“, meinte Canyon-Chef Nicolas de Ros Wallace.
Wachstum bedeutet selbstverständlich größeren Absatz. Canyon ist bei gleich drei Teams der Women’s World-Tour Radsponsor: Neben Niewiadomas Rennstall Canyon SRAM noch bei Movistar und Fenix Deceuninck. Bei den Männern werden Movistar sowie Mathieu van der Poels Arbeitgeber Alpecin Deceuninck mit dem Aeroad von Canyon ausgerüstet. Das bedeutet dann auch, dass der Gravel-Titel durchaus bei Canyon verbleiben könnte. Sowohl van der Poel als auch Pieterse (Fenix Deceuninck) zählen zum Favoritenkreis.
Für Niewiadoma bedeutete der Gravel-Titel im letzten Jahr den Durchbruch nach ganz oben. „Vorher war ich bereits auf gutem Niveau, aber es ging trotzdem immer etwas schief. Mal lag es am Mangel an Selbstvertrauen, mal an schlechtem Timing. Deshalb war es toll, die Saison mit einem Sieg zu beenden. Den Winter über konnte ich dann an meinen Schwächen arbeiten, auch meinen mentalen Schwächen. Zu Beginn der Saison 2024 wusste ich einfach, was ich erreichen will, und dass ich nicht in den alten Mustern stecken bleiben wollte“, erzählt sie.
Nach vielen zweiten, dritten und vierten Plätzen stellte der Sieg vor fast einem Jahr auch eine mentale Befreiung dar. Und was dann folgte, war eben der Sieg bei der Tour de France. Den Titel dort will Niewiadoma natürlich verteidigen. Und gern hätte sie noch mehr Tour de France: statt einer Woche zwei Wochen. Auch das ist eine Ansage.
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