Bilanz Münchner Sicherheitskonferenz: Weltschmerz und Aufrüstung
Bei der bisher größten Sicherheitskonferenz bestimmten die Ukraine und Nahost die Agenda. Aber auch kollektive Ratlosigkeit war verbreitet.
Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz (Siko) stand unter keinem guten Stern. Erst überschattete der Tod des russischen Regimekritikers Alexei Nawalny den ersten Kongresstag, dann kam die Meldung über den Rückzug der ukrainischen Truppen aus der lange umkämpften Stadt Awdijiwka. Das sei eine „professionelle Entscheidung, um so viele Leben wie möglich zu retten“, sagte Wolodymyr Selenskyj bei seinem Auftritt am Samstag dazu nur knapp auf Nachfrage.
Eigentlich wollte der ukrainische Präsident ein zuversichtlicheres Bild der Lage vermitteln. Aber das fiel schwer. „Den russischen Mythos, dass die Ukraine nicht gewinnen kann, widerlegen wir“, sagte Selenskyj zwar vermeintlich selbstbewusst. „Wir sollten keine Angst davor haben, Putin zu besiegen.“ Es sei „sein Schicksal, zu verlieren“. Die derzeitige Kriegsrealität sieht allerdings anders aus. Die Ukraine braucht dringend zusätzliche militärische Unterstützung, um den Krieg nicht zu verlieren. „Waffenpakete, Flugabwehrpakete, das ist gerade das, was wir erwarten“, sagte Selenskyj. „Wie lange erlaubt die Welt es Russland noch, so zu handeln?“
Die aus seiner Sicht notwendige Antwort reduziert sich für Selenskyj nicht auf die erhofften Waffenlieferungen, sondern umfasst auch einen Bereich, der ansonsten auf der Siko nicht so gern diskutiert wurde: „Wir müssen alle Lücken und Schlupflöcher bei den Sanktionen gegen Russland schließen“, sagte er. Kein Sektor der russischen Wirtschaft solle davon ausgenommen werden. „Das sollte auch den Nuklearsektor betreffen.“ Eine unverhohlene Spitze: Frankreich zuliebe ist Uran aus Russland bis heute nicht Teil der EU-Sanktionen. Andere EU-Länder wie Österreich oder Ungarn beziehen auch immer noch in großem Maßstab ihr Gas aus Russland. Von den blühenden Geschäften des Nato-Mitglieds Türkei mit der russischen Despotie ganz zu schweigen.
Rund 800 Teilnehmer:innen
Über die Sanktionslücken verlor Olaf Scholz, der unmittelbar vor Selenskyj auf der Bühne stand, kein Wort. Das hätte seinem auf den Westen bezogenen Postulat widersprochen: „Wir stehen geschlossener zusammen denn je.“ Dabei ist auch ihm bewusst, dass es um die Ukraine auf dem Schlachtfeld nicht gut bestellt ist. Trotz enormer Verluste seien wesentliche Teile der russischen Streitkräfte intakt, führte der Kanzler aus. Russland habe seine Armee lange auf diesen Krieg vorbereitet. Was als Ziel der Ukrainehilfe bleibe: „Einen Diktatfrieden auf Geheiß Moskaus wird es nicht geben.“
Scholz bleibt bei seiner Linie, eine direkte Kriegsbeteiligung Deutschlands, der EU oder der Nato auszuschließen. Aber es gelte, sich vor Russland zu schützen. Daher sei eine massive Aufrüstung erforderlich. „Vollkommen klar: Wir Europäer müssen uns sehr viel stärker um unsere eigene Sicherheit kümmern, jetzt und in Zukunft.“ Das Geld dafür „fehlt uns an anderer Stelle“, bereitete Scholz die deutsche Bevölkerung auf harte Zeiten vor. So werde Deutschland nicht nur in diesem Jahr 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung stecken, sondern auch „in den 20er, den 30er Jahren und darüber hinaus“.
Mit rund 800 Teilnehmer:innen aus mehr als 90 Staaten war die Siko dieses Jahr so groß wie nie. Doch Quantität ist nicht alles. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren hat sie an Relevanz verloren. So traf sich der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk lieber schon in der Vorwoche mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und Scholz statt am Wochenende im Hotel Bayerischer Hof. Ohnehin kam außer dem Kanzler kein Staats- oder Regierungschef eines größeren EU-Lands nach München. Auch Großbritannien war nur mit Außenminister David Cameron vertreten. Wenn es um die schwierige Suche nach europäischen Initiativen zur Lösung des Ukrainekriegs geht, reicht das nicht.
Aber nicht nur Europa fehlt es an einer Idee, wie Putin dazu gebracht werden kann, das Morden zu stoppen. Der Verlust an Menschenleben sei entsetzlich, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Ansprache am Freitag. „Wir brauchen unbedingt einen nachhaltigen und gerechten Frieden für die Ukraine“, forderte er. Grundlage müsse der Respekt vor der territorialen Integrität souveräner Staaten sein. Doch wie lässt sich das erreichen?
Auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris fiel dazu nicht mehr ein als Durchhalteparolen. Und während China im vergangenen Jahr wenigstens noch einen Friedensplan ankündigte, der mittlerweile auch schon als gescheitert gilt, sagte Außenminister Wang Yi diesmal nur, China wolle weiter den Weg bereiten für Friedensgespräche, fände momentan aber nicht die „geeigneten Bedingungen vor“.
Während drinnen im Saal Ratlosigkeit herrscht, sammeln sich draußen am Karlsplatz am Samstagmittag die altlinken Kämpen verschiedenster Schattierung zu einer zweiten Demo – wie jedes Jahr seit 2002. Das Motto diesmal: „Kriegstreiber unerwünscht!“ Die Polizei zählt insgesamt etwa 3.000 Teilnehmer, das könnte hinkommen. Der maoistische Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD ist da, ein paar Gewerkschafter, ebenso klassische Friedensorganisationen wie die DfG/VK oder Pax Christi. Anwesend sind auch etliche junge Menschen, die irgendwo zwischen Punks und Autonomen einzuordnen sind.
Dieses Jahr sind auch etliche Pro-Palästina-Demonstrant:innen dabei. Ansonsten haben sich hier vor allem jene Links-außen-Kleingruppen versammelt, die mehr Parolen als Mitglieder haben. Und davon gibt es immer noch erstaunlich viele. Ihr Weltbild scheint nicht einmal durch einen imperialistischen Angriffskrieg Russlands zu erschüttern zu sein: Schuld sind am Ende immer die USA und die Nato. „Schluss mit der Nato-Expansion“, prangt auf einer Papptafel. „KEIN Geld, KEINE Waffen für die US-Marionetten in Kiew!“, steht auf einer anderen Tafel. „Frieden mit Russland“ ist auch zu lesen.
Einen knappen Kilometer entfernt hat sich unter dem Motto „Macht Frieden!“ auf dem Königsplatz ein aus der Querdenkerszene stammendes Bündnis zusammengefunden. Im vergangenen Jahr war es das erste Mal da. Damals kamen noch rund 10.000 Menschen, diesmal sind es laut Polizei nur noch 2.000. Blaue Friedenstaubenfahnen wehen neben Deutschlandfahnen. Hauptredner ist Jürgen Todenhöfer, Ex-CDU-Bundestagsabgeordneter und Aktivist vor allem in eigener Sache. „Um Russland zu besiegen, muss man früher aufstehen als diese debile Vogelscheuche Joe Biden“, spottet der 83-Jährige. Der „Krieg Amerikas“ läge nicht im Interesse Deutschlands, sondern die „Partnerschaft mit Russland“.
Tod von Nawalny
Über ein besseres Russland wollte auf der Siko selbst eigentlich Julija Nawalnaja sprechen. Nach der Meldung über den Tod ihres Manns kam ihr das verständlicherweise nicht mehr in den Sinn. Aber sie hatte trotzdem etwas zu sagen. Abweichend von der Tagesordnung wurde ihr die Gelegenheit gegeben, am Freitagnachmittag das Wort zu ergreifen. Wladimir Putin und seine Helfershelfer sollten wissen, „dass sie nicht straflos ausgehen“, sagte Nawalnaja mit traurig-wütender Stimme. Der Tag werde bald kommen, an dem sie für all ihre Taten zur Verantwortung gezogen würden. Die internationale Gemeinschaft rief die 47-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin dazu auf, „dieses furchtbare Regime zu bekämpfen“.
Während es an Ideen mangelt, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden könnte, wurde in München für den Nahostkonflikt immerhin ein – wenn auch altbekanntes – Modell diskutiert: die Zweistaatenlösung. Auf dem Podium war sie Mal um Mal Thema. Zwei Narrative konkurrierten dabei: Die Vertreter der arabischen Staaten – Ägypten, Katar, Saudi-Arabien sowie die palästinensische Autonomiebehörde selbst – bestehen darauf, dass das Ausrufen eines palästinensischen Staats weiteren Schritten vorausgehen muss. Israels Präsident Herzog betonte dagegen, eine Zweistaatenlösung ohne die Lösung israelischer Sicherheitsbedenken sei unmöglich.
Und während US-Außenminister Anthony Blinken in München die „unerschütterliche Unterstützung“ Israels betont, wählen die Vertreter europäischer Staaten bedächtigere Worte. Jonas Gahr Støre, Ministerpräsident Norwegens, erklärt: Während man selbstverständlich Israel unterstützte, sei die Vision eines palästinensischen Staats heute stärker als vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober. Die belgische Außenministerin Hadja Lahbib betont, im Gespräch mit den arabischen Staaten müsse ein Plan dafür entwickelt werden.
Wie hoch die Bereitschaft Israels wäre, einem solchen zuzustimmen, konnte auf der Siko kaum debattiert werden, denn Ministerpräsident und Hauptentscheidungsträger Benjamin Netanjahu war nicht anwesend. Anders als eine seiner größten Widersacherinnen: Tzipi Livni, Ex-Außenministerin, Ex-Oppositionsführerin und erklärte Gegnerin des Regierungschefs. Im Gegensatz zu ihm hält sie eine Zweistaatenlösung für vorteilhaft für Israel. Es gehe ihr nicht um ein „blame game“, sondern um einer Lösung, sagte sie. Sie verteidigte aber auch das Vorgehen Israels in Gaza: Das Militär müsste die nötigen Schritte gehen, um die Infrastruktur der Hamas zu zerstören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland