Betroffene über Antisemitismus: Ein Mangel an Solidarität
Der Antisemitismus in Deutschland ist groß. Eine neue Untersuchung hat die Sicht von Betroffenen ins Zentrum gestellt – mit erschreckendem Ergebnis.
Antisemitismus ist ein Problem der Antisemit(inn)en. Und ein Problem mit Antisemit(inn)en. Der Soziologe Theodor W. Adorno brachte diese Einsicht der Antisemitismusforschung schon 1951 auf den Punkt, als er in der „Minima Moralia“ schrieb, Antisemitismus sei das „Gerücht über die Juden“.
Antisemit(inn)en integrieren in ihre Projektionen willkürlich gewählte und bar jeder Logik zugerichtete Mythen, Legenden, Zerrbilder, kurz gesagt: Lügen über das Judentum, die jüdische Geschichte und die jüdische Kultur oder über Jüdinnen und Juden. Insofern sagen antisemitische Stereotype stets etwas über diejenigen aus, die sie formulieren, aber nichts über das Judentum.
Gleichwohl fußen antisemitische Ressentiments auch auf manifestem Unwissen, allerdings in einer spezifischen, geradezu inversen Form. Denn während jene, bei denen der Antisemitismus bereits zum geschlossenen Weltbild geronnen ist, für Argumente und Fakten und damit für Aufklärung unzugänglich sind, ist der Weg zu diesem geschlossenen Weltbild immer wieder konterkarierbar: durch den Hinweis darauf, dass antisemitische Ressentiments falsch sind – und insofern jedes einzelne von ihnen historisch, religiös, politisch, ökonomisch oder gesellschaftlich zu widerlegen ist.
Die paradoxe Situation, die man kennt, wenn man es auch nur einmal versucht hat, einem Verschwörungsgläubigen zu widersprechen, entsteht allerdings dadurch, dass man im Einzelfall nie weiß: Ist das antisemitische Weltbild bereits geschlossen und aufklärungsresistent – oder werden unzusammenhängend einzelne Stereotype reproduziert, und die Person, die dies vollzieht, wäre durch besseres Wissen auch eines Besseren zu belehren?
Samuel Salzborn ist Politikwissenschaftler und seit August 2020 Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus.
Den antisemitischen Mythenhaushalt durchkreuzen
Gerade in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus bei Jugendlichen ist dieser schmale Grat die Schlüsselherausforderung für jede pädagogische Intervention. Und Beispiele, wie das Projekt „Meet a Jew“ des Zentralrates der Juden zeigen auch, dass der antisemitische Mythenhaushalt, den Kinder und Jugendliche aus ihren Elternhäusern mitbringen, durchaus im schulischen Kontext real durchkreuzt werden kann: wenn diese im persönlichen Umgang erleben und erfahren, dass das, was sie über Jüdinnen und Juden glauben ressentimenthaft zu wissen, schlicht falsch ist.
Das Dilemma, das sich für die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus daraus ergibt, ist gleichwohl fundamental. Denn da Antisemitismus ein Problem der Antisemit(inn)en ist, ist es auch genuin die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, diesen zu bekämpfen. Weil die bundesdeutsche Gesellschaft dies aber nach wie vor viel zu wenig und in mangelnder Intensität in Angriff nimmt, liegt mittlerweile eine erhebliche Aufgabe für jüdische Institutionen darin, selbst die Antisemitismusprävention organisieren zu müssen – da sie zum Gegenstand und Angriffsziel des Antisemitismus werden und sich gegen diesen zur Wehr setzen.
Dass diese Wehrhaftigkeit viel zu selten Solidarität erfährt, hat jüngst eine Studie von Katrin Reimer-Gordinskaya und Selana Tzschiesche gezeigt. In ihrer Untersuchung „Antisemitismus, Heterogenität, Allianzen“, bei der es sich um eine qualitative Ergänzung zum Berlin-Monitor handelt, betreten die Autorinnen wissenschaftliches Neuland: sie ergründen erstmals in umfassender Weise die Sicht der von Antisemitismus Betroffenen.
Denn während die empirische Forschung den Blick auf antisemitische Einstellungen legt, werden hier Erkenntnisse über die Wahrnehmung von Antisemitismus im Alltag von Jüdinnen und Juden zusammengetragen. Die Ergebnisse der in Berlin durchgeführten Untersuchung sind erschreckend – und sie wären vermutlich noch erschreckender, würde man die Untersuchung auf das ganze Bundesgebiet ausweiten.
Antisemitismus in Deutschland, eine Black Box
Denn dank der Arbeit zahlreicher zivilgesellschaftlicher Initiativen, allen voran der dokumentarischen Arbeit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), ist das Wissen über den tatsächlichen Antisemitismus in Berlin weit umfangreicher als im Rest der Republik. Und so ist in Berlin das Dunkelfeld antisemitischer Taten inzwischen deutlicher stärker erhellt als im Rest der Republik – der weitgehend bis heute eine real existierende Black Box für das Wissen über antisemitische Taten und Alltagsdiskriminierungen ist.
Die Untersuchung von Reimer-Gordinskaya und Tzschiesche zeigt nun sehr deutlich, dass Antisemitismus von Jüdinnen und Juden in Berlin in allen Lebensbereichen erfahren wird und ein Mangel an Solidarität von Nichtjuden wahrgenommen wird, sich gegen Antisemitismus zu positionieren und Jüdinnen und Juden zu stärken.
Die Umgangsweisen der von Antisemitismus Betroffenen erfolgt oft individualisiert und defensiv, zugleich gibt es aber eben auch sehr viel Engagement innerhalb der jüdischen Community, sich offensiv zu wehren, indem professionelle Strukturen geschaffen wurden.
Die zentrale Defizitwahrnehmung der Berliner Jüdinnen und Juden besteht der Studie zufolge darin, in allen Lebensbereichen eben nicht ohne Einschränkung, ohne Diskriminierung und damit nicht selbstbestimmt leben zu können. Antisemitische Aggressionen gehen dabei von fast allen Bevölkerungsgruppen aus, wobei die Aggressionen von non-verbalen Gesten, Kommentaren, Beleidigungen bis zu körperlichen Angriffen reichen.
Jüdinnen und Juden werden in Kollektivhaftung genommen
Oft äußern sich antisemitische Ressentiments dabei über einen – in Anlehnung an die Überlegungen von Werner Bergmann und Rainer Erb zur „Kommunikationslatenz“ formuliert – „kommunikativen Umweg“ gegenüber Israel: in antiisraelischem Antisemitismus und Ressentiments, bei denen Jüdinnen und Juden in Kollektivhaftung für die Politik des Staates Israel genommen werden.
Vor dem Hintergrund des antisemitischen Terroranschlags in Halle im vergangenen Jahr macht dies eine Kehrseite des defizitären Umgangs mit Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft deutlich: Neben der fortwährend zu garantierenden Sicherheit für Jüdinnen und Juden bedarf es unverzichtbar der alltagskulturellen Solidarität. Solidarität darf dabei freilich nicht als Floskel missverstanden werden, sondern sie bedarf eines dringenden Klärungsprozesses.
Denn oftmals wird Jüdinnen und Juden in Deutschland die Solidarität, gerade auch aus progressiven Milieus, verweigert, wenn es um antiisraelischen Antisemitismus geht. Deshalb bleibt diese Frage auch der Lackmustest des Kampfes gegen Antisemitismus: Zweifelsfrei basieren zentrale Momente des bundesdeutschen Antisemitismus bis heute auf einer Erinnerungsabwehr, einer Täter-Opfer-Umkehr und damit einem schuldabwehrenden Antisemitismus.
Kommunikative Umwege des Ressentiments
Gleichsam sind es eben die seit Jahrzehnten etablierten „kommunikativen Umwege“, bei denen sich der antiisraelische Antisemitismus aufgrund dessen, dass er öffentlich kaum sanktioniert wurde und wird, zu einer globalen Integrationsideologie entwickelt hat. Einem weltanschaulichen Kitt, mit dem Allianzbildungen zwischen politischen Milieus real geworden sind, die in anderen Fragen fundamental verfeindet sind.
Der Mangel an Solidarität mit Jüdinnen und Juden im Alltag hat insofern im doppelten Sinn etwas damit zu tun, dass eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit nicht stattgefunden hat. Denn weder wurde die NS-Vergangenheit bezüglich der Frage der Täter/innenschaft der eigenen Großeltern oder, mittlerweile, Urgroßeltern in den Blick genommen, noch hat die verschobene Erinnerungsabwehr in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, bei der sich der Antisemitismus im Selbstglauben einer moralischen Überlegenheit gegen Israel gewandt hat, zu ernsthaften Formen selbstkritischer Auseinandersetzung geführt.
Diese Verdopplung der Erinnerungsabwehr macht den Kampf gegen Antisemitismus so schwer, weil an seinem Anfang eine gehörige Portion Einsicht und damit Fähigkeit und Willen zur Selbstkritik stünde. Denn genau diese Selbstkritikfähigkeit, die auf einer Fähigkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen basiert, wird im antisemitischen Weltbild suspendiert.
Gelänge es, dies zu durchbrechen, dann könnte das kommende Jahr, in dem in Deutschland an zahlreichen Orten viele Veranstaltungen zu 1.700 Jahren jüdischen Lebens stattfinden werden, vielleicht zum Jahr der Solidarität gegen Antisemitismus werden.
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