Berufung nach Autobahn-Abseilaktion: Zähflüssiger Verkehr vor Gericht
Mit Tumult beginnt das Berufungsverfahren gegen vier Klimaaktivist:innen. Sie wollen die Polizei nicht als „Tatwerkzeug“ benutzt haben.
„Wir wollen den Berufungsprozess nutzen, um dieses wilde Argument infrage zu stellen“, sagt Frauke, eine der Angeklagten, vor Verhandlungsbeginn. Außerdem gehe es darum, „aufzuzeigen, warum es dringend nötig ist, umzusteuern und Autobahnen zurückzubauen“.
Bis zum Beginn der Verhandlung vergeht aber einige Zeit: Es dauert eine Weile, bis die Uniformierten eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) alle Unterstützer:innen der Angeklagten durchsucht haben. Eine zweite Unterbrechung gibt es sofort nach Beginn der Verhandlung, als Richter Nils Meppen alle Beteiligten zum Aufstehen auffordert. Rund ein Dutzend Zuschauer:innen verweigert das – der Richter lässt sie daraufhin aus dem Saal entfernen.
„Gehen Sie freiwillig oder sollen wir Sie tragen?“, herrscht ein Mitglied des MEK einen der Zuschauer an. „Na, keine Antwort ist auch eine Antwort.“
Eine Woche Ordnungshaft
Eine Zuschauerin, die von drei Beamt:innen vom Stuhl auf den Boden geschoben und dann an Armen und Beinen gepackt wird, beschwert sich: „Ich finde es absolut albern, hier rausgetragen zu werden. Ich hab’ nicht mal gehört, worum es geht.“
Vor nun deutlich leereren Zuschauerreihen versuchen die Angeklagten, die sich größtenteils selbst verteidigen, mehrere Anträge zu stellen. Darunter ist beispielsweise der Vorstoß, im Gericht eine genderneutrale Sprache zu verwenden, als Hinweis darauf, dass das heutige Verkehrssystem mit seiner Bevorzugung des Autos patriarchal geprägt sei. Bereits bei der ersten Verhandlung in Schleswig hatten die Angeklagten zahlreiche Anträge gestellt, dazu sogar einen Drucker mit in den Gerichtssaal mitgebracht. In diesem Verfahren unterbindet Richter Meppen diese Versuche: „Sie haben jetzt nicht das Wort.“ Anträge sollten schriftlich gestellt werden.
Das Gericht tue nichts, um die Rechte der Angeklagten zu wahren, sagt die Angeklagte Irene T. Unter anderem habe ihr Verteidiger trotz frühzeitiger Anträge keine Aktenansicht erhalten. Auch wisse sie nicht: „Interessiert sich dieses Gericht eigentlich für die Klimakatastrophe?“
Meppen verhängt daraufhin eine Ordnungshaft von einer Woche gegen T. – sie sei beim Eintritt der Kammer sitzen geblieben, habe „gebrüllt“ und weitergesprochen, obwohl ihr das Wort entzogen worden sei. T. kündigt im Gegenzug einen Befangenheitsantrag an. Nach einem weiteren Wortwechsel wird T. von drei Uniformierten aus dem Saal geführt.
„Das ist so chaotisch, das ist lächerlich!“, ruft eine Zuschauer:in – die daraufhin ebenfalls den Saal verlassen muss.
Protest gegen Abholzung des Dannenröder Waldes
Der Protest im November 2020 hatte sich gegen die geplante Abholzung des Dannenröder Waldes für den Bau der Autobahn 49 gerichtet. Mehrere Aktivist:innen hatten Plakate mit Aufschriften wie „Stoppt den Autowahn“ und „Mit Vollgas in die Klimakatastrophe“ über die Straße gespannt und sich neben den Plakaten abgeseilt. Beim Eintreffen der Polizei hatten sie sich geweigert, freiwillig wieder auf die Brücke zu kommen. Die Aktion führte dazu, dass Autos langsamer fuhren – damit habe aus Sicht der Polizei „Gefahr für Leib und Leben“ bestanden. Die Polizei habe dann die Straße gesperrt – das sei das Ziel der Aktivist:innen gewesen, hieß es im Schleswiger Urteil, das Meppen verlas.
In einer Stellungnahme erinnert die Angeklagte Frauke an die Proteste gegen den Bau der Autobahn 49, deren Trasse durch den Dannenröder Wald verlaufen sollte. Im Herbst 2020 hatten Klimaaktivist:innen dort Bäume besetzt und sich gegen die Rodung gewehrt. Angesichts des Klimawandels gehe es „aber nicht nur um diese eine Autobahn, sondern um die Utopie einer autofreien Welt“, so die Aktivistin.
Eine weitere Angeklagte erklärt, die Möglichkeiten legaler Proteste seien ausgeschöpft, es sei daher notwendig, auch andere Formen anzuwenden, um eine Verkehrswende zu erreichen. Der dritte Angeklagte sagte, er sei „sauer auf frühere Generationen“ und wünsche sich, ins 19. Jahrhundert zurückzukehren, um Dinge anders zu gestalten, denn der individuelle Verkehr sorge für „einen höllischen Zustand“. Zu den Ereignissen im November 2020 an der A7 wollen die Angeklagten nichts sagen.
Insgesamt sind fünf Verhandlungstage angesetzt, bei denen auch die damals anwesenden Polizeibeamt:innen aussagen sollen. Eine Entscheidung ist für September geplant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg